Der Raub

 

Samstag, 23. Oktober 1992, später Nachmittag

Der Wind blies böig aus Südwest unter geschlossener Wolkendecke dahin. Leichter Nieselregen rieselte nieder auf die ölzeugverhüllte Gestalt an der Pier oberhalb des Liegeplatzes der Brigg Outsider. Das Wetter beschleunigte die herbstliche Dämmerung. Wolfs Mercedes stand einsam und etwas rätselhaft im Hintergrund wie ein zurückgelassenes Requisit. Ein Güterzug donnerte über die Eisenbahnbrücke, die den Beginn der Seeschiffahrtsstraße kennzeichnete. Er übertönte das Geräusch eines Kleinbusses, der von der Muggenburg kommend mit aufgeblendeten Scheinwerfern im Rücken der Gestalt hielt. Die Gestalt drehte sich um. Nicole am Steuer erkannte Wolfs Gesicht im Zwielicht. Sie zügelte sich, damit ihr Mienenspiel im Rückspiegel Walter Ditsch hinten nichts verriet. Irene Bothe saß neben ihr.

Wolf sprach ins Mikrofon seines unterm Ölzeug verborgenen Walkie-Talkies. Nicole schaltete die Lichter ab, stieg aus und hörte, wie die beiden anderen ihr folgten.

Wolf trat auf sie zu. Auch er bemühte sich, sein geheimes Einverständnis mit Nicole zu verbergen und eine überzeugende Vorstellung aufzuführen, obwohl ihm schwer fiel, sich das Grinsen zu verbeißen. „Sie kommen von Radio Bremen“, stellte er fest. „Trotz des Wetters haben Sie den Weg nicht, das freut mich. Ich hoffe, Sie werden erfahren, daß Ihr Opfer sich gelohnt hat. Wir werden alles tun, Ihnen eine gute Show zu liefern. Meine Name ist Wolf Isern. Ich bin einer der Veranstalter des heutigen Abends.“

Walter Ditsch, des Teams einziger männlicher Mitarbeiter, war, Jutta Ohlrogges Ahnung erfüllend, schlechter Laune wegen des verpaßten Fußballspiels und keineswegs überzeugt, daß sein persönliches Opfer sich lohnte. Er unterbrach Wolf grob: „Artig vorgetragen. Aber Sie müssen uns schon mehr bieten als gedrechselte Sprüche, nachdem Sie in Ihrer Einladung so dick aufgetragen haben. Begehen Sie jetzt Ihr großartiges Verbrechen?“

Nicole hielt für geraten, fruchtloses Wortgefecht von vornherein zu unterbinden. Mit deutlicher Ironie im Tonfall machte sie bekannt: „Walter Ditsch, unser Tontechniker. Irene Bothe, Kamerafrau.“ Sie fing Wolfs erwartungsvollen Blick, unterdrückte ein Schmunzeln und vervollständigte: „Ich selbst bin Nicole Kuhlenkampf.“

„Freut mich ganz besonders“, behauptete Wolf ernst und blinzelte ihr zu. „Wenn es das Wetter Ihnen erlaubt, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie unverzüglich Ihr Gerät aufbauten. Der Vorhang hebt sich in wenigen Minuten. Um unserem Vorsatz genügend der Wahrheit die Ehre zu geben: Wir haben es ziemlich eilig.“ Und fügte den für Irene Bothes Ohren noch kryptischer klingenden Satz hinzu: „Der Strom kentert auch ohne uns.“

Er wandte sich ab und beugte sich wieder über sein Walkie-Talkie.

 

Ulrich am Funkgerät auf der Brücke der Wechselbalg im Hohentorshafen bestätigte und gab Wolfs Order durchs Sprachrohr in den Maschinenraum weiter. Schon seit dem frühen Nachmittag stampften die Motoren ohne Pause auf kleiner Drehzahl. Dirk und Heiko (der stillschweigend in der Schar der Verschwörer aufgegangen war) vertrauten ihnen nicht und hatten nicht gewagt, ihnen nach dem Probelauf Rast zu gönnen.

Ralf auf Schlepper Kumpel hörte Wolfs Kommando ebenfalls mit, tat das mit einem langen Pfiff aus seiner Dampfpfeife kund und warf die Leinen los.

Ulrich befahl alles los bis auf Achterspring und Steuerbordmaschine langsam zurückl. Der Wechselbalg Bug schwang von der Pier weg, während Ronald und Tim schnell die Festmacher aufschossen und wieder klar legten. Die Fender an backbord blieben außenbords hängen.

„Mittschiffs. Beide langsam voraus!“

Die Wechselbalg nahm Fahrt auf und stampfte auf die Hafenausfahrt zu. Dichtauf in ihrem Kielwasser folgte Ralf auf seinem Dampfschlepper.

 

„Was ist nun?“ fragte Tontechniker Ditsch und versuchte mit Ungeduld in der Stimme die Befangenheit zu überspielen, die ihm Wolfs großspurige Zuversicht verursachte. Unschlüssig streckte er sein Mikrofon hierhin und dorthin. Wolf wies mit einladendem Schwung zum Hohentorshafen hinüber. „Wenn Sie ihre Aufmerksamkeit zur anderen Weserseite lenken würden...“

„Dort rührt sich nichts!“ versetzte Walter Ditsch ungnädig. Ein ungeübtes Auge vermochte hinter den grauen Regenschleiern        nur verschmierte Kräne zu unterscheiden.

„Dort bewegt sich eine Mastspitze“, assistierte Wolf zuvorkommend. „Sie gehört einem Fahrzeug, das gleich um den Molenkopf biegen, auf uns zu dampfen und hier zu unseren Füßen hinter der Brigg Outsider festmachen wird. Die Outsider ist das Segelschiff im Vordergrund...“

Irene Bothe schwenkte ihr Objektiv über die Outsider, doch Wolf dirigierte es mit einer Handbewegung zurück zum Lankenauer Höft, hinter dem hervor sich nun der Bug der Wechselbalg in die Weser hinausschob. Hinterher drängelte ein kleiner, schwarzen Rauch spuckender Schlepper.

„Ein Kriegsschiff!“ schnappte Walther Ditsch überrascht, daß staatliche Autoritäten in dieses seltsame Verbrechen verwickelt sein sollten.

„Nicht ganz“, korrigierte Wolf mild. „Es handelt sich um einen ausgemusterten Minensucher der niederländischen Marine, der inzwischen als Sportboot registriert ist. Er wird den Rehabilitanden ersatzweise als Wohnschiff dienen.“

Nicole vermerkte, daß Wolf sich in der Rolle des Kommentators offenkundig wohl fühlte. Genießerisch zog er eine Kette undurchschaubar miteinander verknüpfter Accessoires aus dem Hut und rieb sie seinem staunenden Publikum unter der Nase entlang.

Walter Ditsch musterte abgestoßen diesen allzu selbstsicheren Isern, dem es nicht einfiel, seinen Gästen mehr als eine Handvoll trockener Mitteilungsbrocken zum Fraß vorzuwerfen, obwohl doch sie, die Gäste, ihm einen Gefallen taten, nicht ahnend, ob sie dabei selbst satt werden würden.

Die im Regen verschwommene Silhouette des Minensuchers verschob sich, als er auf die Beobachter zudrehte und Fahrt erhöhte. Kurz vor der Eisenbahnbrücke brodelte weiß sein Schraubenwasser auf. Während sie noch zusahen, passierten mehrere Dinge. Ein weiteres Motorengeräusch näherte sich schnell, und ein klappriger VW-Bus schoß hinter den Häusern der Muggenburg hervor, wo seine Insassen den Funkverkehr abgehört hatten. Der Fahrer bremste scharf, die Türen flogen auf, noch bevor der Wagen ganz stand; fünf Gestalten sprangen heraus.

Gleichzeitig erwachte rumpelnd Outsiders Diesel unter ihnen und stieß ein blaue Abgaswolke unter ihrer Gillung hervor. Mehrere ölzeugmaskierte Mimen quollen aus dem Steuerhaus – einer winkte kurz herauf – und fingen an, die Keile aus der Luksüllverschalkung zu schlagen.

Der Minensucher legte sich, überflüssigerweise angestubst vom Dampfschlepper, hinter der Outsider sanft gegen die Pier. Vorn und achtern flogen Wurfleinen, und Ditsch sah, wie zwei der Gestalten vom VW-Bus heran eilten, um sie wahrzunehmen (es waren Jan und Ronald). Die beiden machten den Minensucher mit Querleinen hastig fest; eine Planke wurde an Land geschoben. Outsiders Maschinenluk entstieg ein verschmierter Overall (Heiko). Die übrigen drei Gestalten aus dem Bus (Julika, Anton und Rainer) stürmten die Gangway hinab und halfen ihm, die eindeckenden Planken vom Luk zu reißen.

Der Schiffsführer des Minensuchers polterte von seiner Brücke, sprang an Land und schritt weit ausladend auf das Kamerateam zu. Er verbeugte sich eckig. (Wolf sah auf die Uhr. Kurz vor Stauwasser.)

 „Wunderschönen guten Abend meine Damen, mein Herr! Ich bin Ulrich Furney und der – ha-hm – seemännische Verantwortliche für die bevorstehende, verbrecherische Unternehmung. Sicher hat mein Kollege Sie schon begrüßt. Auch ich möchte Ihnen versichern, wie sehr ich mich durch Ihren Entschluß geehrt fühle, unserem kleinen Seeräuberstück als Zeugen und aufzeichnende Beobachter beiwohnen zu wollen. Bitte filmen Sie gründlich. Eine ausführliche Erklärung erhalten Sie in spätestens zwei Stunden.“

Sowas aus Ulrichs Mund! dachte Nicole. Scheint noch aufgekratzter zu sein als Wolf.

 „Hoffentlich habe ich bis dahin Geduld“, knurrte Walter Ditsch. „Ich erkenne immer noch kein Verbrechen.“

„Im Augenblick wäre dazu auch noch einige Phantasie erforderlich“, lachte Ulrich und breitete in einer Geste der Abbitte die Arme aus. „Ich ersuche Sie, mich zu entschuldigen. Die Tide läuft unaufhaltsam und wir haben Arbeit zu tun.“

Scheint wirklich bedeutsam zu sein, die Tide, dachte Irene Bothe.

 

Wolf indessen gruppierte sein Rudel zum Stoß vorwärts, teilte ein, kniff in Backen, biß in Hacken, sonderte erfrischende Bemerkungen ab...

„Beeilung da mit den Brotsäcken!“, rief er soeben zur Outsider hinunter. „Da sind keine rohen Eier drin, ihr könnt sie ruhig anfassen!“

... bis mürrische Beschwerden: „Soll lieber selber mit anfassen, der Wichtigtuer“, sich über das Getümmel erhoben.

Doch war die Fruchtbarkeit seiner Ordnung nicht zu übersehen. Unter seiner Rute formierte sich schnell eine schwankende Ameisenstraße schwer bepackter Piraten; die schleppten Proviantkartons, Kisten, Tüten, Kanister, Tauwerkcollies, Werkzeug, See- und Schlafsäcke, Farbeimer innerhalb von zehn Minuten vom Deck der Wechselbalg über die Gangway zur Pier hinunter über die Gangway zur Outsider. Dort übernahmen andere und senkten die Lasten mit Sannas Ladebaum durchs weit offene Großluk in Outsiders Bauch.

Ein Darsteller trat zum ersten Mal auf – aus dem Kartenraum der Wechselbalg. Irene Bothe und Walter Ditsch sollten ihn später als Frank Coburn kennenlernen. Unterm Arm trug er ein dickes Bündel Navigationsunterlagen, brachte es in Outsiders Steuerhaus.

Nicole sah Wolf befriedigt nicken, weil Irene die Geschäftigkeit gewissenhaft filmte. Er blinzelte ihr verstohlen zu.

Von der Weserpromenade spazierte ein älterer Herr mit Hut, Schirm und Dackel heran, starrte eine Weile nachdenklich und fragte dann: „Drehen Sie einen Film?“

„Ja“, rief Wolf aufgedreht. „Er heißt: ‚Wie Anne Bonny10 ihre Unschuld verlor’. Wollen Sie mitspielen? Sollten Sie Ihr Brett zufällig nicht vorm Kopf haben, leihen wir Ihnen ersatzweise gern eine Blindenbrille – die Augenklappen sind gerade alle in Gebrauch!“ Der Herr wandte sich empört ab.

Im schwindenden Frühabendlicht verstauten die Verschwörer die letzten Konservenbüchsen. Der Mann im Maschinistenoverall trat zu Wolf und drängte: „Wir müssen los. Die ersten Junkies trudeln jeden Moment ein.“

„Uhrzeit?“

„Siebzehnvierzig. Stauwasser.“

Hinter allem ausgelassenen Treiben spürte Walter Ditsch versteckte Dringlichkeit; sie trieb das Geschehen vorwärts, bisher wies nur sie vage auf Strafbarkeit. Eigentlich hatte er Desinteresse herauskehren wollen, aber die Fiebrigkeit übertrug sich auf ihn. „Wieso dürfen Sie den Junkies nicht begegnen? Ich denke, das Kriegsschiff soll als Ersatz dienen!“

„Beides richtig. In diese Richtung sollten Sie weiterdenken“, riet Wolf grinsend. Er fing sich und bat Walter Ditsch und seine Kolleginnen höflich, sich auf die Outsider zu begeben. Vom Dach des Steuerhauses genössen sie beste Übersicht und könnten filmen, ohne beim Loswerfen im Wege zu stehen. In seiner Aufforderung mit schwang zweifellose Autorität, der die Erfahrung von Widerspruch, ja bloß seine Idee fremd schien. Walter Ditschs Füße setzten sich zur Gangway in Bewegung; ärgerlich gebot er ihnen Einhalt.

Da sah er, daß Nicole voran ging. Sie neigte bestimmt nicht zu gedankenlosem Gehorsam. Nur während der letzten Minuten, fiel ihm ein, hatte er ungewohnt wenig von ihr gehört. Er folgte ihr. Die Gelegenheit zum Einspruch verstrich.

Sanna und Anton packten bei der Kameraausrüstung mit an. Ronald fuhr den Transporter des Teams zurück zur Muggenburg, wo er während der kommenden Tage stehen konnte. Karl und Nils verabschiedeten sich mit kurzem „Wir sehen uns in Norwegen“, unbewußt die Augen verschließend vor der Tiefe dieses Schnitts. Sie bestiegen VW-Bus und Mercedes und brausten davon, ihren Aufgaben an Land entgegen. Innerhalb von Minuten lag die Pier beinahe verwaist da. Nur Jan und Ronald lösten noch die Landanschlüsse und warteten, auch die Festmacher loszuwerfen.

 

Das Ablegemanöver fuhr Frank, Ulrich mußte die Wechselbalg an Outsiders Stelle verholen. Schlepper Kumpel dampfte unter der Eisenbahnbrücke auf der Stelle. An Outsiders Ruder stand Frank und roch den auflandig blasenden Wind. Seit ein paar Minuten versetzte der Ebbstrom sachte weserabwärts. Outsider lag mit dem Bug gegenan, doch nach achtern versperrte die Wechselbalg ihr den Rücksetzraum, und voraus streckte die Brücke sich über den Fluß. Frank war sich nur zu bewußt, wie entscheidend der erste Eindruck vom ersten Manöver der Presse und Öffentlichkeit Meinung beeinflußte. Viel Platz stand ihm nicht zur Verfügung.

„Alles los vorn“, befahl er. Die Leinen schlängelten sich über die Pier, hüpften ins Wasser und wurden eilig über die Reling binnenbords gezogen. Vorn sprang Jan übers Schanzkleid an Bord.

„Ruder hart Steuerbord. Halbe Fahrt voraus!“ Unterm Spiegel quirlte die Weser weiß auf. Aber gegen den Wind wollte sich Outsider nicht von der Schulter lösen, an der sie geschlummert hatte. Oder? Doch, benommen, widerstrebend rührte sie sich...

„Voll voraus! Achterleinen los!“

Ronald flankte an Deck. Im halben Schlaf noch rannte Outsider jähzornig plötzlich viel zu schnell gegen die Brücke an. Ralf riskierte sein Schiffchen, keilte es zwischen ihren Rumpf und die Pier und drückte den Bug zur Strommitte. Kaum war Outsider durch den Wind, drehte sie allein weiter. Triumphierend dröhnte ihre Sirene, sie wandte sich seewärts, Kumpel pfiff anerkennend. Vom Deck der Wechselbalg winkte Ulrichs Kommando.

Und auf der Pier stand ein Junkie mit hängenden Schultern und glotzte stumpf.

 

Irene Bothe auf dem Ruderhausdach filmte, wie Wolf ihr freundlich diktiert hatte. Hinter ihr stand Nicole, blickte über ihre Schulter und wies sie an, jetzt auf die Wechselbalg zu halten, aus deren Schornstein eine fette Dieselwolke stieg. Jemand fierte die Festmacher; das graue, unförmige Boot rückte, fußweise wie seine Fesseln nachgaben, entlang der Kaimauer vor und nahm Outsiders Platz ein.

Während die weserabwärts schon das Lankenauer Höft passierte, hielt auf der Pier unter der Stephanibrücke ein Kleinwagen. Ein langhaariger junger Mann stieg aus.

An Bord der Outsider setzte Heiko ein lichtstarkes Fernglas ab und kommentierte für die Presse: „Einer der Sozialarbeiter, Abel Merten. Hoffen wir, daß Ulrich jetzt glaubwürdig ist.“

„Wieso?“ fragte Walter Ditsch mißtrauisch.

„Haben Sie noch ein bißchen Geduld“, grinste Heiko.

 

Abel Merten konnte Kompromisse eingehen, sonst hätte er seinen Beruf schlecht ausüben können. Vom „Schiffstausch“ hatte er durch die lakonische Briefdrucksache erfahren und war voll stiller Wut gewesen. Wieder mal drückte der Verein die an die Wand, die seine Hauptsorge sein sollten. Doch Abel wunderte sich nicht. Ein Süchtiger verwirkte seine sozialen Rechte, so lehrte ihn die Erfahrung, so verstanden es ehrbare Bürger.

Er beobachtete nichts Unerwartetes, als die Outsider in den Dunst entschwand und statt ihrer ein häßlicher grauer Eimer festmachte, der bedenklich kriegerisch aussah. Abel nahm sich vor, seinen Unwillen nicht auf die Mannschaft des Ersatzschiffes abzuladen. Die traf keine Schuld an seiner früheren Verwendung. Für’s erste beschäftigte ihn der empörte Junkie, dem er verklaren mußte, daß ein anderes Nachtquartier anstelle des wegschwimmenden ihn erwarte, wenn er nur ein Weilchen Ruhe gebe.

Die Wechselbalg machte fest. Zwei Mann legten seine Vorleine zur Spring um, warfen die Achterleine über einen näheren Poller und brachten zwei Querleinen aus. Auf der Wasserseite ging Schlepper Kumpel längsseits. Die ledige Hälfte von Ulrichs Kommando stieg über. Ralf legte seinen hübschen Messingtelegraphen auf Volle Kraft und stob hinter Outsider her. Eine Viertelstunde später reichte er seine Passagiere an sie weiter, löste sich von ihrer Bordwand und dampfte nach Bremerhaven voraus. Die zwielichten Nieselschleier vermischten sich mit der dichten, dunkelgrauen Wolke aus seinem spillerigen Schlot.

 

[...]

 

Samstag abend

Um neunzehn Uhr zwanzig übernahm Outsider nun in völliger Dunkelheit Ulrich und Dirk samt ihrem Dinghi. Am liebsten hätte Wolf sofort Segel setzen lassen, um die günstige Brise zu nutzen. Doch Ulrich und Frank tippten sich synchron an die Stirn und verweigerten ihm einstimmig, eine nicht aufeinander eingespielte Besatzung hinauf zu schicken in ein unbekanntes, stockfinsteres Rigg. Natürlich sah auch Wolf das ein, gegen seinen brennenden Wunsch. In seiner Eigenschaft als Operationschef ordnete er die Zubereitung eines gehaltvollen Abendessens an, befahl, das Schiff gründlich durchzulüften und mit Essigreiniger zu säubern, denn im Innern stank es süßlich nach Elend.

Er selbst übertrug Frank und den Leuten von der Abendwache das Deck und begab sich mit Ulrich in die Messe, wo die beiden ihre erste Pressekonferenz in Szene setzten.

 

Wolf eröffnete sie mit der Feststellung: „Meine Damen, mein Herr, Sie befinden sich an Bord der Brigg Outsider, eines Schiffes, das wir soeben widerrechtlich an uns gebracht haben, das wir zu entführen im Begriff stehen.“

„Quatsch“, unterbrach Walter Ditsch. „Sie sind ausgelaufen, weil Sie ’ne langweilige Regatta segeln wollen. Alle hier an Bord reden davon. Die sollen wir für Sie ins Fernsehen bringen, darum haben Sie uns mit ’nem geschmacklosen Scherz geködert.“

„Die Outsider gehört“, lächelte Wolf grimmig, „rechtmäßig dem Verein ‚Adict Obdach’, der es als Wohnschiff für obdachlose Drogenabhängige nutzte, ein unterstützenswertes Projekt, dem wir sicher nicht schaden wollen. Nun ist eine Brigg wie diese uns aber zu schade für ein trostloses Schicksal wie jenes. Deswegen haben wir den alten Minensucher, den Sie freundlicherweise vorhin für uns filmten, aufgekauft und ausgebaut. Er füllt die Rolle als Hausboot passender, und wir haben uns erlaubt, beide Schiffe gegeneinander auszutauschen, ein Protest gegen das gedankenlose Verfallenlassen wertvoller Erbstücke maritimer Kulturgeschichte und aus Protest gegen die Gleichgültigkeit selbst.“ Ausführlich stellte Wolf Outsider dar als Denkmal der Seefahrtstradition, das man nur erhalten könne, führe man es wieder seinem natürlichen Element zu, unter einer Besatzung jugendlicher Rehabilitanden, als Museumsschiff oder als maritime Botschafterin des Landes Bremen, die in Europas Staaten Speckflagge zeige. „Wir fordern die Wiederindienststellung der Outsider, sonst nichts. Damit einher geht eine einzige Drohung: Weigert sich der Senat, unserem Anliegen zu entsprechen, entführen wir die Outsider nach See hinaus, auf das die Weser ihren Kiel nie wieder benetze. Sobald unserem Verlangen stattgegeben ist, bringen wir das Schiff friedlich zu seinem Liegeplatz zurück und stellen uns widerstandslos der Justiz.“

Ulrich nahm das Wort. Kein Verschwörer sei bewaffnet, betonte er, und jeder an Bord freiwillig beteiligt. Das Fernsehteam setze man auf Wunsch jederzeit an Land. – Sofern sicherer Schiffsbetrieb es erlaubte, hätte er einschränken müssen. Aber solche Fußnote hätte Walter Ditsch nach vorn gezerrt als durchsichtige Schlupfklausel; durch sie hofften die Outsiders aus ihrem Wort zu entweichen – das damit schon jetzt nichtig wäre.

Jeder aus der Prisenbesatzung sei seemännisch erfahren, erläuterte Ulrich, und die Wachoffiziere befugt, ein Segelschiff zu führen. Nüchtern, um Wolfs üppige Rede gegenzuwiegen, erläuterte er den geplanten Verlauf und die Erfolgsaussichten der Operation, erwähnte nur die Namen der Stützpunkte nicht. Nicole überreichte er ein dickes Kuvert mit einer Seriennummer. Es enthielt Fotokopien der Personalausweise und nautischen Zeugnisse aller Outsiders, ihre Bestätigungen, im vollen Bewußtsein der Folgen an Bord zu sein, dazu notarielle Beglaubigungen, daß sie die Bestätigungen vor dem E-day unterschrieben hatten.

„Denn“, schloß Ulrich, „wir spielen von Anfang mit offenen Karten. Jeder soll jederzeit wissen, wer wir sind, und wo drauf wir aus sind.“

Selbst Tontechniker Ditsch befürchtete nicht mehr, wegen falschen Alarms ein denkwürdiges Fußballspiel zu verpassen. Er richtete seine Angriffslust auf die Motive der Outsiders, trachtete, sie als vorgeblich zu entlarven, spürte nach Lücken in ihren Vorkehrungen, versuchte, ihnen Fahrlässigkeit nachzuweisen. Er befingerte den Umschlag mit ihren Papieren und schnappte nach dem, was er mit Händen griff: ihren Qualifikationen.

Ulrich antwortete ruhig und schlicht. Zwei Kapitäne seien an Bord, berechtigt, Schiffe auf Großer Fahrt zu führen, einer habe Segelschiffe wie die Outsider schon befehligt. Eine Hälfte der Besatzung sei auf Großseglern gefahren, mehrere als Wachführer, Bootsmann oder Toppsmatrose. Alle anderen segelten Yachten. Damit fahre das Schiff zu Anfang einer Reise wahrscheinlich eine qualifiziertere Besatzung als je zuvor in seinem Leben.

„Das kann stimmen oder nicht. Ausweise haben Sie uns gezeigt. Wer beweist uns die Echtheit?“ Übergangslos sprang Ditsch weiter. „Dann das neue Wohnschiff: vermutlich eine morsche, leere Hülle. Wie kommt man an ein früheres Kriegsschiff? Woher stammt das Geld dafür? Was ist mit den Habseligkeiten der Rehabilitanden passiert?“

Ulrich erklärte es ihm. Außer dem Schiff sei nichts entführt. Natürlich, das sei schwerer Diebstahl.

Ditsch fraß den Brocken prompt, ungestüm rief er: „Die Wasserschutzpolizei wird entern und Sie überwältigen, bevor wir noch an Brake vorbei sind!“

„In zwei Stunden?“ schaltete Wolf sich spottend ein. Das Gestocher schien ihn zu amüsieren. „Bei ‚Adict Obdach’ weiß bis jetzt niemand von einem Diebstahl erlauchten Vereinseigentums. Schwerlich wird jemand einen angezeigt haben. Die Wasserschutzpolizei hat nicht den geringsten Verdacht gegen uns. Die werden nicht mal den Kopf wenden, wenn wir vorbei fahren.“

„Was, wenn doch? Werden Sie bewaffnete Beamte einfach über Bord werfen? Mindestens androhen werden Sie Schußwaffengebrauch früher oder später!“

„Nein“, erwiderte Ulrich mit einer Spur Ungeduld. „Wir haben keine Schußwaffen. Wir werden nicht mal ‚Buh!’ machen, nur versuchen auszuweichen und zu fliehen, soweit wir dabei nicht Dritte gefährden. Wir werden keinen aktiven Widerstand leisten. Wir begehen aus Gründen, die wir Ihnen nannten, eine strafbare Handlung, aber wir sind keine skrupellosen Gangster. Durchsuchen Sie meinetwegen das Schiff nach Waffen.“

„Sie wagen zu erklären, Sie seien unbewaffnet, dabei tragen Sie offen Waffen an sich“, schnaubte Ditsch.

Ulrich brauchte einen Moment zu begreifen, daß Ditsch auf die Takelmesser anspielte, die vielen Outsiders vom Gürtel baumelten.

Wolf sprang ein. „Hier an Bord, wo wir mit dickem Tauwerk umgehen, sind scharfe und vergleichsweise lange Messer als Werkzeug unerläßlich. Sie sind nicht gedacht, Menschen zu verletzen.“

„Man könnte jederzeit damit töten!“ warf ihm Ditsch heftig vor. Ulrich zog unwillkürlich seinen Kopf zurück. „Das kann man mit der Hälfte der Gegenstände, die zur Ausrüstung eines Segelschiffes gehören, mit einem Belegnagel, einer Pumpenzange, einem Beil, einem Kuhfuß...“

„Eben. Besonders, wenn Ihre faulen Erklärungen nur Ihre echten, sehr eigennützigen Motive tarnen. Was ist dem Sozialarbeiter passiert, der Sie wohl überraschte und Zeuge ihrer Tat wurde? Liegt der jetzt aufgeschlitzt unten im Bauch dieses Marineschiffs?“

Wolf und Ulrich sahen sich betroffen an. Was hatte Walter Ditsch schon alles erlebt?

„Spätestens, wenn Ihr erster Bericht die Redaktion erreicht“, beschwichtigte Wolf, „wird doch die Polizei jemanden zur Wechselbalg schicken. Die werden schnell feststellen, daß wir keinen Mord auf dem Gewissen haben.“

Walter Ditsch empörte sich so, daß er nicht mehr wahrnahm, wie schweigsam Nicole blieb, die das Team führte. Sie ließ ihn fragen, das entsprach nicht ihrer Gewohnheit. Irene Bothe merkte es und musterte sie argwöhnisch von der Seite. Nicole lächelte unbestimmt.

 

[...]

 

Gegen Brakes Lichterschein an niedriger Wolkendecke hoben sich der Hafenkräne Verästelungen deutlich ab. Frank verglich anhand der gerade passierten Tonne Outsiders Position mit dem Zeitplan und nahm eine Peilung zum Atomkraftwerk Esensham, das an Backbord unter seinen Wachscheinwerfern gleißte. Es war dreiundzwanzig Uhr.

Um Mitternacht trat Ulrichs Wache zur Ablösung an. Wenig später ließ der Strom merklich nach, unterschritt Niedrigwasser und kenterte. Outsider stand planmäßig querab Einswarden mit Reede und Fähranleger Blexen an Backbord voraus; Ulrich schickte sich an zu ankern. Dafür brauchte es keine fünfzehn Hände, aber Franks Leute blieben an Deck, damit gleich alle es lernten. Ulrich steuerte das Schiff an die Sechsmeterlinie auf dem Echolotschirm und befahl: „Fallen Anker!“

Timm löste am Gangspill Laschings und Bremse, und die Kette donnerte vom Gewicht des Ankers gezogen aus der Klüse. Eine im Dunkeln weniger sichtbare als zu schmeckende Roststaubwolke stieg auf und senkte sich auf die Häupter.

„Zwei Schäkel stecken!“ befahl Ulrich.

„Zwei Schäkel, aye“, bestätigte Timm gelassen.

Wolf sah sich um und sog die kühle Nachtluft, den vertrauten Tanggeruch der brackigen Weser genießerisch ein. Schlepper Kumpel nickte schon friedlich vor seinem Anker. Aus dem kleinen Bulleye unter seiner Back drang ein schwacher, warmer Schimmer. Außer ihm und Outsider lagen hier unten auf der Kleinschiffsreede noch vier Segler, die vorgezogen hatten, schon am Regattavorabend aus dem Kaiserhafen auszuschleusen, damit sie morgens nicht ins Gedränge gerieten. Wolf unterschied die Umrisse von Astarte und Grönland und den kleinen, schnellen Schoner Johann Ehlers.

Outsiders Ankergerassel rief dort den Skipper an Deck. Er winkte kurz herüber und verzog sich zurück in seine Koje. Ob er von Outsiders angeblicher Regattateilnahme gehört, ob er sie, die vermutlich einzige Brigg an der deutschen Küste, erkannt hatte? Wahrscheinlich nicht. Schlafende Skipper haben die Gabe, beim leisesten verdächtigen Geräusch wohl die Lider aufzuschlagen, aber erst zu erwachen, falls ihre Augen auch die Gegenwart ihres Geistes erforderlich meldeten.

Bevor morgen früh um halb sieben der Startschuß fiel, noch vor Sonnenaufgang, käme die Regattaleitung an Bord, um Outsider ihren Wimpel zu überreichen. Vielleicht mußte Wolf Fragen beantworten. Er nahm sich den fremden Skipper zum Vorbild.

 

Sonntag morgen

Um drei Glas auf Morgenwache servierte Anton Rühreier mit Speck. Seine Augen hatten die weise Mahnung der Vernunft erhört, waren ihm zugefallen, sobald er lag. Dank mehr als vier Stunden Nachtruhe wirkte er ziemlich wach, im Gegensatz zu den meisten an Bord. Die bedienten sich größerer Mengen heißen Kaffees, spülten damit die wichtigsten ihrer maulenden Lebensgeister hervor aus den entlegenen Winkeln ihrer Innenwelt, zurück ins Bewußtsein.

Wolf rasierte sich gründlich, daß seine Wangen brannten und die Blässe seiner Haut schönfärbten. Zu seiner Verstimmung war er fast so nervös wie seine Gefährten.

Er nahm Nicole beiseite. „Felix macht das Schlauchboot klar, sobald er runtergeschluckt hat“, erklärte er. „Sanna und er bringen eure ersten Kassetten und Tonbänder zum Kumpel rüber, Ralf nimmt sie nach Geestemünde rein, Karl holt sie ab und bringt sie zur Redaktion nach Bremen. Umschläge und wasserdichtes Verpackungsmaterial liegen in der Navigation.“

Nicole nickte. Auch sie hatte die Nacht schlaflos verbracht, hatte eine schriftliche Zusammenfassung der Ereignisse aufgesetzt und ihre Erwartungen an die nähere Zukunft formuliert. Sollten die ersten Bilder und Kommentare zum Raub noch heute in die Abendnachrichten, mußte Wolf sie hier auf den Weg schicken und zwar, bevor er sich den Behörden erklärte. Später hätte ihm die Polizei auf die Schulter getippt, sobald er einen Fuß auf festen Boden setzte.

Nicole scheuchte Irene und Walter an Deck, noch ein paar Stimmungsbilder des grauenden Morgens einzufangen. Julika und Dirk putzen über die Reling gebeugt ihre Zähne, da meldete Rainer verstört: „Polizeikreuzer kommt auf von Geestemünde.“

Bestürzte Stille senkte sich über Outsiders Deck. Damit nicht womögliche Restströmung sie auf die anderen Ankerlieger trieb, hatte Ulrich sie abends zuvor weit stromab gelegt, der Hafeneinfahrt am nächsten. Viel zu spät zum Fliehen. Allein zum Ankerhieven brauchten sie eine halbe Stunde, und noch mit zwei Stunden Vorsprung vor dem Kreuzer hätte der sie mühelos eingholt. Ohnehin ergab eine Verfolgungsjagd auf dem Wasser höchstens Sinn, wenn die Öffentlichkeit mitkam, wissend um der Verschwörer Ziele.

Frank und Ulrich saßen noch unten um die Messeback. Wolf bat sie herauf an seine Seite und trug unbewegliche Miene zur Schau.

Minuten banger Erwartung vertröpfelten, und die letzten Hoffnungsschimmer liefen trübe an: der Kreuzer meinte die Outsider. Weniger als zehn Meter entfernt drehte er bei, ein Kopf mit Bart und Elbsegler sproß übers Schanzkleid des oberen Fahrstands, hob ein Megaphon vor den Mund. „Outsider ahoi“, brüllte er. „Moin, moin. Freut mich, daß ihr’s geschafft habt! Die anderen schleusen noch aus. Start ist pünktlich halb sieben an der Linie Tonne 63 und Reedetonne 54. Hier ist euer Startwimpel: Nummer 18. Viel Glück!“ Übers Wasser kam ein beschwertes Bündel geflogen und plumpste aufs Maschinenluk vor Outsiders Steuerhaus.

„Brauchen wir“, schrie Wolf und schwenkte ohne aufzuatmen ein auf die um dräuende Schicksalstracht erleichterten Aussichten. „Könnte ein haarsträubender Törn werden.“ – Und setzte übermütig hinzu: „Heute abend werden sie manchem zu Berge stehen!“

Der Kreuzer drehte ab und nahm Fahrt auf zum nächsten Ankerlieger.

 

Felix und Sanna kamen an Deck geklettert und machten sich noch kauend daran, den Zodiac auszusetzen. Der von der arglosen Regattaleitung ausgelöste Gruselschauer war an ihnen vorbeigegangen, der Angstschweiß schon wieder getrocknet.

Ralf tauchte ölverschmiert aus der winzigen Unterwelt seines Maschinenraums auf, wo er Kumpels Kessel eingeheizt hatte. Er verständigte sich mit Wolf, legte Dampf auf die Ankerwinde und hievte seine Kette kurzstag. Felix und Sanna fuhren hinüber, gaben Irenes Filmmaterial und Nicoles Berichte in seine treuen Hände; zehn Minuten später heißten sie das Dinghi schon wieder unter Outsiders Spiegel. Ralf drehte Kumpels Bug zur Schleuse.

Der ersten einer Reihe drückender Lasten ledig rieb Wolf sich die Hände und grinste Nicole an: „Wenn wir nachher unseren Frevel den Behörden beichten, ist das Material für den Aufmacher von heute abend schon bei euch in der Redaktion.“

 

Die Morgendämmerung schritt fort. Nun, da die unentbehrliche aber lästige Brücke zum Land abgebrochen war, richteten Frank, Ulrich und Wolf ihr Augenmerk gen Himmel. Der setzte sich regnerisch und verhangen in Szene. Merklich kühler war es geworden. Von Westen hatte eine Kaltfront sich herangeschlichen und war der lagernden Warmfront von gestern hinterrücks in den Nacken gesprungen. Die entstandene Okklusion hing jetzt schwer über der Wesermündung. Noch blies es kräftig und böig aus Südwest, doch Frank verkündigte für demnächst eine Rechtsdrehung auf West, vielleicht auf Nordwest. Sie mußten schnell freien Seeraum gewinnen, sonst fing der katzenlaunige Wind sie in der Deutschen Bucht als sein Spielball.

Tim und Sanna waren Ulrichs befahrenste Seeleute. Sobald das Büchsenlicht erlaubte, schickte er sie in die Toppen voraus, sich mit dem Laufenden Gut vertraut zu machen; anschließend den Rest der Crew einzuweisen, damit Outsider Segel setzten konnte, sobald der Startschuß fiel.

Um sechs ließ er die Zeiser von den Marssegeln lösen. Unten warf Heiko seinen Diesel an und schaltete ihn auf die Hydraulik der Ankerwinsch. Die Ankerkette kroch klickend binnenbords. Während Outsider sich über ihren Anker hievte, befahl Ulrich Schoten los, Marssegelfallen und Brassen besetzen.

„Heiß auf Obermarsrahen!“

Zu viert fielen die Outsiders ein in die Fallen. Die schweren Rahen klommen schubweise die Racks hinauf, am Großmast, wo Anton mitwirkte, schneller als vorn. Die Kette kam kurzstag, dann auf und nieder.

„Anker bricht Grund!“ schrie Felix von vorn.

„Los Geitaue und Gordings! Hol durch die Schoten! Ruder in Lee! Braß an, an Steuerbord! Gut so! Fest! Belege!“ donnerte Ulrich. Sanft legte Outsider sich vor den Wind. Ulrich lächelte in sich hinein, zufrieden, weil er ohne Maschine ausgekommen war. Trotzdem ließ er sie nicht abstellen, bis zum Startschuß, sicherheitshalber. Wolf am Ruder grinste auch und noch breiter, als einem Wink Nicoles folgend, Irene die Kamera auf ihn richtete.

Auch die weiter nach Blexen liegenden Segler hievten jetzt ihre Anker und schlossen zur Startlinie auf. Weitere näherten sich aus der Geeste und von Norden, aus der Kaiserschleuse, wegen der schlechten Sicht mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Am Start würden sie aufpassen müssen, einander nicht anzurempeln.

Wolf entdeckte den Polizeikreuzer wieder, der auf und ab stampfte, wartend, das gröbste anzunehmende Chaos zu ordnen. Ein Zollboot stob weseraufwärts und legte sich Berufsschiffen in den Weg, die stromab nach See strebten. Sicher hatte jeder zweite Frachterkapitän die Warnung der Radarzentrale verpaßt, fröhlich übergangen oder gleichgültig in den frischen Wind geschlagen.

Ulrich warf Rainer die Regattaflagge zu: „Hier, heiß das mal.“

„Wo denn?“

„Im Vortopp zum Beispiel. Such dir halt die schönste Flaggleine aus.“

„Da ist aber nur eine.“

Über einen nicht vorhandenen Brillenrand hinweg sah Ulrich ihn bloß kritisch an, und Rainer murmelte: „Okay, okay.“

Die Weser beschreibt hier am Ochsenhals eine scharfe Biegung nach Westen. Auf der kurzen Strecke bis zur Tonne 54 mußten die Outsiders die Rahen mehrmals nachtrimmen. Der Polizeikreuzer rief sie auf dem Regattakanal und wies ihnen die Startposition zu. Dort angekommen ließ Ulrich das Vormarssegel backbrassen und drehte bei.

Zwei Dutzend Schiffe traten hier auf der Stelle, unter Maschine oder auf die stilvollere Art, wie sie auch Outsider sich zur Ehre gereichen ließ. Tim erkannte die flaschengrüne Alexander von Humboldt, den Colin Archer Rakel, die Clipper-Schiffe Albatros und Seute Deern, die Großherzogin Elizabeth, den Toppsegelschoner Thor Heyerdal, die Fritjoff Nansen, die Roald Amundsen, die Gaffelketsch Carola, die Johann Ehlers und etliche andere.

Unverhofft machte sich Regattafieber auch auf der Outsider breit. Wolf ertappte sich wiederholt dabei, wie er nach die Uhr sah und die Lage des Schiffes zur Startlinie abschätzte. Als plagten ihn keine anderen Sorgen! Er lächelte über sich selbst. Obwohl anhand der Regatta bewiesene, gute Seemannschaft ihrer Glaubwürdigkeit nur zuträglich sein konnte, im segelnden Teil der Öffentlichkeit immerhin. Warum also nicht versuchen, sich solange sie an der Regatta teilnahmen, tapfer zu schlagen, bis Helgoland?

Plötzlich: „Braß voll Vormarssegel“, befahl Ulrich scharf. „Fall ab!“

Wolfs Kopf fuhr herum, und er sah noch, wie ein Puff weißlichen Rauchs von der Fischereihafenmole am Bremerhavener Ufer aufstieg. Der Abschußknall rollte herüber. Wolf wirbelte das Rad nach Lee und vermerkte, wie zackig Ulrich seine Befehle bellte. Offenbar befiel auch ihn Hitze zu Beginn einer Regatta – die doch nur dienen sollte, dem Seeraub eine kleidsamere Tarnung überzustülpen.

Outsiders Bug schob sich aus dem Schutz der Blexener Landzunge, und der Wind frischte noch um ein Quentchen auf; Wolf schätzte ihn auf sechs Beaufort. Outsider krängte unterm Druck ihrer beiden großen Marssegel merklich nach Steuerbord. Wolf freute sich; und er fragte sich, ob und wann Ulrich mehr Leinwand setzen wollte. Vollzeug war bei diesem Wind nicht mehr ratsam. Wolf brauchte nicht lange zu warten.

„Wache auf Manöverstationen!“ rief Ulrich. „Breitfock, Besan und beide Klüver hoch!“ Er spürte, Outsider trug durchaus ein paar Quadratmeter mehr. Besser hier, in der geschützten Außenweser reizte er ihr Stehvermögen, bevor er draußen in der rauhen Nordsee eine Stenge einbüßte. Und jedes Manöver spielte seine Besatzung besser aufeinander ein.

Wie erwartet nahm Outsider den vermehrten Druck nicht übel; sie legte sich mit jungem Mut ins Zeug. Ihrer Länge nach stach sie die meisten anderen aus. Sie schien sich ihrer Vergangenheit als schnelles Postschiff zu erinnern, oder sie fühlte sich in die Pflicht genommen von Heikos Versprechen: Sie schob sich innerhalb des Feldes nach vorn.

Die Skipper durften frei wählen zwischen den beiden Weserarmen, die in die Nordsee hinaus führen. Wegen der Aussicht auf nördlicher drehende Winde entschieden die Rahsegler und mit ihnen Ulrich, Höhe zu schinden, solange es ging. Draußen auf See durften sie dann großzügiger schoten, ohne Gefahr, Helgoland verfehlend nach Osten abzudriften. Dafür nahmen sie die etwas längere Strecke in Kauf und segelten das luvwärtige Fedderwarder Fahrwasser entlang. Die höher am Wind laufenden Gaffelsegler, voran Johann Ehlers, nahmen von solchen Sorgen unbekümmert die kurze Route durch den Wurster Arm.

 

[...]

 

Outsider machte gute Fahrt. Das GPS zeigte neuneinhalb Knoten über Grund. Um halb zehn lag Robbennordsteert achteraus. Durch die Erdscheibe vorm Bug stachen die Leuchttürme Tegelerplate und Mellumplate, der Klüverbaumzeigefinger unterstrich sie in energischem Gleichmaß; dahinter, mit dem Glas gerade erkennbar, Alte Weser und Rote Sand. Eine Stunde später fiel Outsider etwas ab, passierte den Rote Sand im Westen und lief, die Untiefe westlich Tonne A9 umsegelnd, geradewegs auf die Nordergründe Nord zu. Diesen Kurs gedachte Ulrich beizubehalten bis Helgoland.

Recht voraus kam der Pulk der Segler aus dem Wurster Arm in Sicht. Sie lagen auf ähnlichem Kurs und bestätigten Ulrichs Entscheidung. Mit ihnen stieß Schlepper Kumpel hinzu; Ralf hatte beim Startschuß noch in der Schleuse gelegen, dann Outsider schnell einholen müssen, obwohl er bei diesem Wetter größeren Segelschiffen hinterdrein hinkte. Der Kumpel nahm bei jeder zweiten Welle schnaufend Wasser über, doch dampfte er unverdrossen und trotzig durch die kurz angebunden sich gebärdende Nordsee. Ralf am Ruder auf seiner winzigen Brücke bot all seine Geschicklichkeit auf, noch durfte er nicht nach Hause zurück in seine sichere Wesermündung.

„Alles klar?“ brüllte Wolf hinüber.

„Jawoll“, brüllte Ralf zurück. „Grüße von Karl!“

 

Outsider schien sich über den Seegang zu freuen, schob einen rauschenden Schnauzbart vor sich her und nahm die zwei, drei Meter hohen Wellen mit einem Schwung, den ein phantasievoller Geist auf Freiheit nach Monaten der Gefangenschaft zurückführen mochte.

An Bord aber gab es die ersten Ausfälle zu beklagen. Die Seekrankheit schlug zu, wie sie diesen oder jenen Menschen willkürlich ob Alter, Stand, Geschlecht oder Seerfahrung trifft. Ronald, Julika und Rainer fielen ihr zum Opfer, Walter Ditsch und Irene Bothe, deren Aufnahmen etwas zerstreut wirkten. Ulrich tröstete sie. Das legte sich im Laufe der ersten Tage. Er stand breitbeinig neben Wolf und Frank am achteren, offenen Steuerstand. Sie federten die Schiffsbewegungen freihändig in den Knien aus und inhalierten tief die schneidende Seeluft.

Da ihre Kollegen „zum Porzellangott flehten“ – wie Karl pietätlos solches Leid schon beschrieben hatte – lud Nicole sich die Kamera selbst auf die Schulter, klippte das Mikrofon an und gesellte sich zu den drei Seehelden. Beiläufig, als hielte sie die Kamera nur in Bereitschaft, verdeckte sie mit ihrer locker hängenden Hand die rote Diode, die verriet, daß sie aufnahm. Auf diese Weise fing sie die natürlichsten Szenen ein.

Wolf grinste sie an, seine Mundwinkel halbwegs hinter die Ohren gehakt. Am Objektiv vorbei lächelte sie zurück. „Erstmal hängt alles an mir. Irene und Walter liegen flach. Ich hoffe, sie lassen mich in Helgoland nicht im Stich. Dort könnten wir nochmal von Bord, nehme ich an?“

Ulrich am Ruder öffnete seinen Mund, aber Wolf rief dazwischen, als sei ihre Frage nicht zu ihm durchgedrungen: „Merkst du, wie sie lacht, wie sie aufgeht? Nach Jahren endlich Regen in der Wüste! Sie lebt wieder und springt wie ein Fohlen, das todkrank gelegen hat! Spürst du es? Wenn ich in den letzten Wochen vor lauter Arbeit vergessen hatte, warum ich das alles mache – ich weiß es wieder! Sie ist es wert!“ Er strahlte sie an, und ihr versetzte es einen Stich. Brennend verlangte es sie in Momenten wie diesen, alle Klugheit verachtend sich an seinen Hals zu werfen. Sie beschränkte sich auf eine Wiederholung ihres Lächelns. „Ich habe dich immer verstanden. Heute glaube ich fast, du hast recht. Freiheit ist schön, nicht nur für Schiffe.“

„Nicht nur für Menschen“, verbesserte er.

„Menschen können niemals frei sein. Die Unfreiheit entspringt jedem einzelnen und beschert ihm die schönsten Erlebnisse. Allein deine zwanghafte Suche nach Freiheit macht dich zu ihrem Gefangenen. Nur in den seltenen Augenblicken, in denen du sie findest, bist du froh.“

Wolf lachte. „Keine anthropologischen Diskussionen – nicht jetzt! Helgoland ist schon in Sicht. Sobald die Düne querab peilt, muß ich Bremerhaven anpreien. Dann ist es vorbei.“

Um elf Uhr vormittags rief Wolf den Schlepper Kumpel zum letzten Mal heran. Beide Schiffe stampften heftig in der kabbeligen See vor der Helgoländer Einfahrt.

Etwas bange überbrachte Nicole ihren Kollegen das Angebot, sich an Land setzten zu lassen. Die beiden lagen mit grünlichen Gesichtern in ihren Kojen. Zu ihrer Überraschung reagierte besonders Walter Ditsch heftig abwehrend. „Mich jetzt vor diesen Bastarden geschlagen geben? Und kotze ich mir die Seele aus dem Leib – ich kneife nicht! Gibt’s Arbeit? Ich komme nach oben.“ Männer! Nicole verzog keine Miene, aber sie lachte erleichtert in sich hinein. Das Team blieb an Bord.

Sanna und Felix sprangen ins Dinghi und brachten Ralf das neueste Videoband hinüber. Beider Schiffe Kurse trennten sich nun. Kumpel dampfte auf den warmen Helgoländer Schutzhafen zu. Outsider fiel ab. Mit dem Regattafeld passierte sie Helgoland im Osten.

Bei durchstehendem Südwest hätten die Schiffe hinter der nördlichen Dünetonne Nordwestkurs angelegen, aber genau von dort blies es nun. Sie mußten weit nach Norden ausholen und deckten dadurch Outsiders Flucht noch ein Weilchen. Bei einem kleinen Bleistiftkreuz auf der Seekarte gingen sie endlich über Stag und hielten auf die Sellebrum West zu. Hier brach Outsider aus ihrer Mitte, hinein in die offene See.

 

Wolf betätigte die Sprechen-Taste am Funkgerät im Steuerhaus und rief:

„Bremerhaven Port Control für Brigg Outsider, kommen.“

 

„Bremerhaven Port Control für Brigg Outsider, kommen“, krächzte der Lautsprecher in der Bremerhavener Radarzentrale. Der wachhabende Lotse, ein gemütlicher Mann namens Kegler, hatte schon Mellenthins Gespräch mit der Outsider vermittelt. Gerade biß er herzhaft in ein dick mit Leberwurst bestrichenes Butterbrot. „Oufeir? Mi if mo mimei ie Ega’a?“

Sein Kollege, Herr Lothar Kaiser, betrachtete ihn mit zurückhaltender Abscheu. „Wolltest du mir etwas mitteilen?“

Kegler schluckte und wiederholte ungerührt: „Die segelt doch jetzt Regatta. Müßten langsam Helgoland erreicht haben. Warum rufen die nicht dort an, wenn sie sich verlaufen haben?“

„Bremerhaven Port Control für Brigg Outsider, kommen.“ Wieder tönte Wolfs Stimme durch den Raum.

„Er meint aber dich. Wie wäre es, wenn du ihn annimmst?“ erkundigte sich Herr Kaiser.

„Schon gut“, brummte Kegler und antwortete: „Brigg Outsider für Bremerhaven Port Control. Höre Sie klar und deutlich. Was kann ich für Sie tun?“

„Bitte hören Sie mir genau zu und zeichnen Sie das Gespräch auf“, versetzte Wolf knapp und schärfte ein wenig seinen Ton. „Die Brigg Outsider nimmt nur zum Schein an der Regatta teil. Sie wurde von uns gekapert. Schneiden Sie mit?“

„Moment“, protestierte Kegler verwirrt. „Machen Sie Witze? Bitte wiederholen Sie das.“ Betroffen sah er seinen Kollegen an.

„Ich mache keine Witze“, erklärte Wolf deutlich. „Uind ich werde alles wiederholen und klar erläutern, sobald Sie freundlicherweise ihren Rekorder eingeschaltet haben.“

Kegler wechselte noch einen Blick mit Kaiser, hob die Schultern und drückte die Aufnahmetaste eines Gerätes, das ständig angeschlossen war zum Mitschneiden des Funkverkehrs bei Unfällen und Vorkommnissen, die Beweismaterial für das Seegericht erfordern mochten. „Ich habe getan, was Sie verlangen“, meldete er.

„Danke“, sagte Wolf freundlich. „Mein Name ist Wolf Isern. Einige Freunde und ich haben die Brigg Outsider von ihrem Liegeplatz in der Bremer Innenstadt entführt. Die Liste unserer Namen wird Ihnen zugestellt werden. Wir werden uns der Übergabe und Festnahme widersetzen, bis der Oberbürgermeister des Landes Bremen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen glaubhaft versichert hat, unsere Forderungen zu erfüllen. Diese lauten wie folgt:

Die Brigg Outsider, dem Verein ‚Adict Obdach’ gehörig, muß vor dem Verfall bewahrt, seetüchtig erhalten und unter Segeln wieder in Fahrt gebracht werden, als Rehabilitationsprojekt für Straffällige oder Drogensüchtige oder auf andere Art.

Es ist nicht unser Interesse, uns oder unsere Absichten zu verbergen. Darum hat ein Fernsehteam von Radio Bremen hat den Hergang der Entführung an Bord aufgezeichnet; das Band wurde dem Sender ausgehändigt. Es enthält weiterhin Interviews, aus denen genau unsere Forderungen wie auch unsere Beweggründe hervorgehen. Alle Personen sind freiwillig an Bord, wir sind unbewaffnet und haben keine Geiseln genommen. Wir werden gegen niemand physische Gewalt anwenden. Dies versichern wir ehrenwörtlich. Da wir keinen schädigen wollen, haben wir als Ersatzunterkunft für die Drogensüchtigen dem Verein ‚Adict Obdach’ ein Ersatzschiff am gleichen Liegeplatz gestellt. Es erfüllt die Zwecke des Vereins besser als eine Brigg wie die Outsider.

Ihnen, Herr Kapitän, schlage ich vor, uns einen Kanal zu öffnen, auf dem Sie mit uns Verbindung halten. Abschließend lege ich ihnen nahe, die Polizei zu alarmieren. Over and out.“

Wolf lehnte sich zurück und grinste. „Jetzt sind die am Zug. Die Jagd ist eröffnet.“