Montagnachmittag

Wieder trat unter Barschings Vorsitz der Führungsstab zusammen, ergänzt diesmal um den Leiter der Bereitschaftspolizei, Kriminaldirektor Gerloff. Als Gast wohnte Innensenator Heck auf eigenen Wunsch der Sitzung bei. In Gegenwart der Polizeiführung wollte er sich heute mit den Entführern unterhalten.

Mittags war von Helgoland ein SAR-Hubschrauber gestartet, eine Sea King des Grenzschutzes. Geleitet von der Neuwerk hatte sie die Outsider in nordnordwestlicher Richtung gefunden und fotografiert. Gestochen winzige Outsiders sah man im Rigg arbeiten, auf einem Bild winkten sie von Deck herauf, offenbar gut gelaunt.

Neben den Aufnahmen zur Diskussion standen die polizeipsychologische Untersuchung des Videobandes, Burckhardts Ermittlungsbericht des Tages und die INPOL-Daten. Jeder für sich blätterten die Beamten. Manchmal murmelte einer halblaut. Barsching schwieg, bis er sich unvermittelt zum Innensenator drehte, der grübelnd an seiner Seite saß. „Herr Senator, ich denke, der Zeitpunkt wäre passend gewählt, mit dem Rädelsführer – wie heißt er? – Isern zu sprechen.“

 

Outsider stand zwanzig Meilen nordöstlich Nordschillgrund. Sanna nahm Hecks Anruf entgegen und rief Wolf ins Steuerhaus.

„Hier spricht Innensenator Heck“, sagte Heck.

„Ist mir eine besondere Ehre“, beteuerte Wolf fröhlich. „Also weiß die Landesregierung um unsere Forderungen. Ich blicke Ihrer Stellungnahme neugierig entgegen.“

„Vor allem bitte ich Sie inständig, von jeder Gewalttat abzusehen, durch die Menschen zu schaden kämen. Ich bin sicher, Sie würden es später bereuen.“

„Herr Senator“, erwiderte Wolf und belegte seine Stimme mit gütigem Tadel. „Darauf haben wir Ihnen schon alle Ehrenwörter verpfändet. Wir drohen, das Schiff zu behalten. Sonst nichts. Und wir geben Ihnen die Bitte gleichen Wortlauts zurück. Ich hatte mir versprochen, die Antwort Ihres Chefs aus Ihrem Munde zu hören.“

„Was erhoffen Sie, wenn Sie den Senat des Landes Bremen erpressen?“

„Das wissen Sie. Ihr Wort. Die Glaubwürdigkeit Ihrer Regierung ist angeschlagen genug, Sie könnten sich nicht leisten, es zu brechen. Nicht einmal gegen Schiffsdiebe. Mit dieser Gewißheit gehe ich ruhig ins Gefängnis.“

„Ich warne Sie, die politische Bedeutung Ihrer Tat zu überschätzen. Dieses Wort wäre erpreßt. Niemand braucht ein erzwungenes Versprechen einzulösen, auch eine Regierung  nicht“, versetzte der Innensenator.

„Muß sie unter ihren Parteigängern zu viele befürchten, die mit den Entführern sympathisieren, bekäme es ihrem Wahlerfolg besser. Vor allem eins, das so leicht zu halten ist. Wortbrüche haften im Gedächtnis. Die Umstände, die dazu führten, geraten in Vergessenheit. Ich wundere mich, daß ausgerechnet ich Sie darüber belehre. – Herr Senator, bitte halten Sie mich nicht für unhöflich. Aber haben Sie nichts zu sagen, beende ich die müßige Diskussion.“ Wolf schaltete ab, ohne auf Antwort zu warten.

Heck in Bremen starrte in den Hörer.

 

Kramer murmelte: „Nur ein Menschenverächter hält das Gedächtnis der Öffentlichkeit für derart kurzlebig. Obwohl... nein.“ Als schüttele er einen verwirrenden Traum ab, fragte er: „Und was hat uns das gebracht?“

„Nicht weniger, als wir erwarten durften“, erwiderte Barsching. „Wie der Herr Senator feststellte: kein Mensch würde die Zusage für bindend erachten. Na, dieser Isern hat uns ja zu keiner Gelegenheit gegeben.“ Er räusperte sich. „Halten wir uns an was wir haben. Die Herren kennen inzwischen Kollege Burckhardts Bericht. Bitte, Herr Kommissar, fassen Sie uns Ihre Einschätzung zusammen, kennzeichnen Sie die Beteiligten und halten Sie auch mit persönlichen Eindrücken nicht hinterm Berg.“

Burckhardt war während des Telefonats müde in seinen Sessel zurück gesunken. Er richtete sich auf. „Was ich zusammentragen konnte, bringt mich zur Auffassung, daß die Entführer wirklich eine Art Kreuzzug führen für den Erhalt eines nach ihrer Meinung wertvollen, maritimen Kulturdenkmals, mag das in unseren Ohren auch absurd klingen. Ich denke, sie sind, wie sie behaupten, unbewaffnet, beabsichtigen keine Geiselnahme und wollen keinem mehr als den angerichteten Schaden zufügen. Ich glaube es ihnen. Was jedoch passiert, wenn wir sie in die Enge treiben –“ er lächelte schmal. „Ich stimme Herrn Habenau zu: jeder Alltagsgegenstand kann Waffe werden...“

Barsching nickte grimmig; er befragte den Polizeipsychologen. Doch eine bündigere Gebrauchsanleitung schürfte auch dessen Fachkenntnis nicht aus den seelischen Stollen der Outsiders zu Tag.

„Der Schluß liegt auf der Hand, meine Herren“, folgerte Barsching. „Keine Zugeständnisse. Schnappen wir uns die Mistkerle!“

„Ha!“ Marquarts Einwurf klang, als klatsche seine Axt in den Marterpfahl für Blinde. Fordernd stellte er sich dem Stirnrunzeln seiner Kollegen. „Einfach so? Die Radarlotsen verlieren ein Segelschiff in der Nordsee nicht leicht aus den Augen, wahr. Wir aber sind noch nicht dort. Hat einer der Herren weiter als Helgoland gedacht? Zum Beispiel, wie lange die Kerle draußen bleiben wollen, falls wir sie nicht greifen? Wir sahen, welche Vorräte sie während des Überfalls an Bord geschafft haben. Die reichen nicht ewig. Ein Schiff in See braucht Wasser, Diesel und Proviant...“

Freigegeben aufs Stichwort schnappte der in Burckhardts Hinterkopf gefangene Einfall heraus. „Schottland! Da ist doch ein Schotte an Bord. In der Hohenlohestraße bin ich über seine Anschrift auf den Orkneys gestolpert. Hab’ mal Urlaub da gemacht. Gottverlassene Gegend. Einsam und gemacht für Schlupfwinkel!“

Marquart wandte ein: „Wir wissen von ihrem Schotten, und das wissen die Entführer. Die sind schlau genug, uns für so schlau zu halten, daß wir uns zusammenreimen, daß sie dorthin wollen. Die Reise weit. Sie werden, wenn überhaupt, nicht direkt hinsegeln. Das verbietet im Augenblick auch die Windrichtung.“

Barsching vollführte eine hinwerfende Bewegung aus der offenen Hand: Da ha’m Sie’s. Und?

Marquart lachte auf. „Und wir sind wieder, von wo wir gestern losgestiefelt sind. Würde ich für eine Weile nicht unterbrochen, käme ich gern zu meinem Einwand. Die Entführer müssen mehr Stützpunkte haben, nicht bloß in Schottland. Wahrscheinlich in Skandinavien. Halsen wir Skandinaviern oder Briten unseren Job auf, weisen sie’s von sich. Bitten wir sie, unser SEK in ihr Land zu lassen, lachen sie uns aus. Bleibt: wir müssen außerhalb fremder Hoheitsgewässer, vor ihren Schlupfwinkeln die Entführer abfangen.

Nun rennen wir gegen ein Hindernis, auf das die Schlauberger als ihren Hauptvorteil bauen. Wir können nicht an ihre Tür klopfen und sie höflich aber bestimmt ersuchen, uns aufs Revier zu begleiten. Sollen wir den Kommissar Burckhardt mit ’nem Hubschrauber zur Neuwerk bringen, und von dort soll der Arme auf die Outsider übersteigen? Gucken Sie mal aus dem Fenster, wir haben Ende Oktober! Unterstellt, die Entführer seien bloß halb so erfahrene Seeleute, wie sie für sich in Anspruch nehmen: Springt das grobe Wetter ihnen ein bißchen zur Seite, wehren sie jeden Enterer ab allein durch geschickt ungeschicktes Manövrieren. Nicht mal Widerstand gegen die Staatsgewalt könnten wir ihnen ankreiden. Jedenfalls nicht nachweisen. Treibt aber unser Versuch sie darein, ihre Gewaltlosigkeit aufzukündigen, zerquetschen sie uns zwischen beider Schiffe Bordwände, ohne persönlich nur eine Hand zu erheben.“

„Angenommen, aus der Luft setzt man Beamte direkt auf die Outsider ab?“ schlug Gerloff vor, der Leiter der Bereitschaftspolizei.

„Das halte ich für noch absurder“, erwiderte Marquart. „Braucht selbst bei ruhigem Wetter zu viel, wovon man beim schnellen Zugriff am wenigsten hat: Zeit. Mindestens eine Minute pro Mann dauert es, eine halbe Stunde, das ganze Kommando auf ein Schiff abzuseilen – selbst dann zu lange, wenn die Entführer tatenlos Beifall klatschten. Und der erste unserer Leute stünde, bis der nächste nachkommt, allein gegen ein Dutzend Entführer. Nicht nur das Überraschungsmoment ginge der Aktion ab. Ein Segelschiff führt über Deck einige Kilometer Tampen, Segel und Masten. Die schwingen beim herrschenden Wetter im Seegang wie riesige Angelruten. Unsern Mann, baumelnd an seiner Winde, schmettert es gegen die Spieren, verheddert ihn drum, das Seil reißt, er stürzt ab. Hält das Seil, pflückt es den Hubschrauber aus der Luft. Menschenleben wollten wir schonen, nicht?“

„Versteht sich“, versicherte Gerloff hastig.

„Selbst gesetzt, wir fassen Fuß an Deck und legen den Entführern Handschellen an: Wer steuert die Outsider nach Deutschland zurück? Haben wir Leute, die nicht nur stürmen, sondern auch Segelschiffe führen können?“

„Sicher gelänge uns, ein paar Lotsen überzusetzen, nachdem unser Kommando an Bord ist“, sagte Kramer. „Schlimmstenfalls lassen wir die Entführer segeln, legen ihnen erst in Bremen Handschellen an. Unsere Eitelkeit muß zurückstehen.“

„Gefundenes Fressen für die Presse“, warf Habenau ein.

Barsching würdigte ihn keines Blickes. „Ich fasse zusammen, korrigieren Sie mich“, sagte er. „Wir gehen auf die Forderung nicht ein. Die Entführer kehren nicht freiwillig in einen deutschen Hafen zurück. Aus politischen Gründen bitten wir das Ausland nicht um Hilfe. Ein Zugriff aus der Luft ist technisch wie taktisch gefährlich oder unmöglich: bleibt nur die fast ebenso gefährliche Alternative: wir lassen von einem anderen Schiff oder Boot ein Kommando entern, im Handstreich und vielleicht bei Seegang. Die Frage ist: Haben wir Leute, die das können?“

„Nein“, sagte Gerloff vom SEK deutlich.

„Doch“, sagte Heck.

Argwöhnische Blicke bündelten sich auf den Innensenator. Keiner sprach.

 

„Allerdings“, fuhr Heck zögernd fort, „nicht bei der Landespolizei. Eigentlich wollte ich nicht... dennoch glaube ich –  ich könnte sie kriegen.“ Er blickte unschlüssig vor sich auf den Tisch.

„Vielleicht möchten Sie uns in Ihre Einsichten einweihen“, legte Barsching ihm nahe. Er klang beirrt. Zeitweilige Sachwalter der Exekutive wie Heck mußten Rücksicht nehmen auf die Launen wählender, öffentlicher Meinung. Mancher schrieb noch demokratische Grundsätze sich auf die Fahne betreffend der Bürger Rechte auf Rechenschaft. So einem, Parteifreund oder nicht, legte man nicht leichtfertig mächtige und sensible Werkzeuge der Staatsmacht in Hände – zu zweifelhaft verantwortungsvollem Umgang. Darüber wachten hohe Nachrichtendienstbeamte eifersüchtig. Aber diesmal schien der Senator einen Schritt voraus zu sein, und das wurmte nicht nur Barsching.

Heck zögerte, versunken in den Anblick seiner Fingernägel. „Außergewöhnlich wie die Dinge liegen, sollte ich ’s wohl wagen, Sie einzuweihen. Jedoch darf, was ich Ihnen anvertraue, unter keinen Umständen, ich wiederhole: keinesfalls! diesen Raum verlassen.“

Er räusperte sich. „Das Grenzschutzkommando Küste hat seinen Sitz in Bad Bramstedt, Sie wissen das. Ihm unterstellt ist die Abteilung BGS See, angesiedelt in Neustadt, Schleswig-Holstein. Sie besteht aus ihren beiden Einsatzflottillen und umfaßt daneben die Küsteneinsatzhundertschaft, die in den fünfziger Jahren aus den Küstenjägern hervorging. Die Hundertschaft verfügt über Aufklärungs- und Luftlandezüge.“ Heck holte Luft. „Bis hier kann jeder Bürger nachlesen. Weitergehend sind nur wenige Leute in Deutschland unterrichtet.“

Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an. Doch Heck holte noch einmal aus.

„Vielleicht ist Ihnen weiterhin geläufig, daß die britische Royal Navy über eine ‚Special Boat Service’, SBS, genannte Einheit verfügt. Sie ist das weniger bekannte maritime Gegenstück zum berühmten Special Air Service. Nachdem in den achtziger Jahren in der Südsee und in Polynesien das Piratenunwesen gegen britische Frachtschiffe überhand nahm, spezialisierte der Special Boat Service sich auf amphibische Kommando- und Antiterrorunternehmungen. Dazu gehört, Schiffe zu entern. Nun gastierte vor gut drei Jahren anläßlich eines Nato-Besuchs ein Musikcorps der Royal Navy in einer Neustädter Kaserne. Die Truppe spielte in Wirklichkeit auf höchst unmusischen Instrumenten. Wahrscheinlich hätte keiner einen Ton aus einer Trompete gebracht. Die Männer gehörten einer SBS-Abteilung an mit der Aufgabe, einen Zug Küsteneinsatzhundertschaft für ihre sehr speziellen Aufgaben auszubilden. Natürlich hätte der Bundestag die Aufstellung einer paramilitärischen Einheit dieses Zuschnitts verabschieden müssen. Ewige Debatten sehr fraglichen Ausgangs wären dem vorausgegangen. Sie können sich das vorstellen... Kein Bundestagsabgeordneter weiß davon. Daher die Geheimhaltung.“

 

[...]

 

Dienstagabend in Bremen

Jutta Ohlrogge lud Barsching noch einmal, Heck oder wenigstens Kramer als Studiogast. Bei allen dreien stieß sie auf unwirsche Ablehnung. Sie wunderte sich nicht, schrieb sie es auch falscher Ursache zu. Der Bürgermeister enthielt sich jeder öffentlichen Äußerung zu den Forderungen. Ihr blieben nur die kargen Erklärungen des Polizeisprecher, sie setzte sie in eigene Worte:  Der Rädelsführer habe Telefongespräch und Verhandlungen mit Barsching wie mit dem Innensenator abgebrochen. Der Leiter der Wasserschutzpolizei Marquart habe am frühen Morgen den Fühlung haltenden Kreuzer zurückgerufen. Seitdem bestehe kein Sichtkontakt zur Outsider, die Entführer funkten nicht mehr, stellten sich stumm. Angeblich sei es in den dicht befahrenen Gewässern vor der Haustür jedoch nicht möglich, ein Schiff zu verlieren. Mild erinnerte Jutta Ohlrogge an die oft verzweifelten Anstrengungen der DGzRS, Schiffbrüchige in der Nordsee aufzuspüren.

(Marquart hatte Barschings Anpfiff einstecken müssen, ob seiner Eigenmächtigkeit. Den LKA-Chef interessierte der Treibstoffhaushalt der Neuwerk wenig. Aber an Marquart prallte Barschings Aufregung über Unvermeidliches ab. Im Laufe langer Berufsjahre hatte er sich Gleichmut erworben.)

Man durchschaue nun, fuhr Jutta Ohlrogge fort, welcher Ränke Adict Obdach zum Opfer gefallen sei. Zum Teil der eigenen. Der Verein habe keinen Diebstahl angezeigt, denn er habe keinen bemerkt. Sie bemühte sich nicht, die Vereinsehre zu schonen. Konkrete Schritte zur Rückeroberung des Schiffes seien weder geplant noch eingeleitet.

Wie wenig dieses Dementi der Wahrheit entsprach, ahnte Jutta Ohlrogge nicht. Die Bremer Polizei hielt sich bedeckt.

 

Der Kommunikationswissenschaftler kennt den Begriff des threshold items. Damit gemeint ist ein Medienereignis, das die Schwelle aus der schnell vergessenen Schlagzeile heraus überwindet und Eingang findet ins Tagesgespräch des Normalverbrauchers am Abendbrot- und Stammtisch. Welche Nachricht die Brisanz dazu trägt, hängt nicht nur ab von ihrer Dramatik, oder in wieweit sie den Bürger persönlich betrifft. Eine Rolle spielt auch, mit welchen zeitgleichen Medienereignissen sie wetteifern muß.

Wer am Dienstag im Feierabendsessel Nachrichten sah, erfuhr nichts, was ihn persönlich betraf. Wen ging ein Schiffsraub weit draußen in der Nordsee an, wen die Behauptungen eines Polizeisprechers? Im Fall Outsider bewegte sich nichts. Daran mochte zweifeln, wer wollte, es wirkte nicht sensationell, selbst wenn Jutta Ohlrogge ironische Würze drüberstreute. Die Nachrichten flimmerten vorbei vor blicklosen Augen, hakten in den Hirnen nicht fest. Jutta Ohlrogge war sich dessen bewußt, und sie bedauerte es. Mehr oder minder heimlich billigte sie der Outsiders Anliegen.

Auch Ralf klang niedergeschlagen, als er die flauen Berichte an Wolf funkte. Es war nach Mitternacht, Wolf saß allein im Steuerhaus. Er behielt ihren Gehalt für sich.

Zum Überfluß sollten Outsiders Schlagzeilen am folgenden Tag noch überlagert werden von einer viel ungeheuerlicheren Meldung.

 

Dienstag nacht

Vier Männer überquerten in der Nacht die niederländisch-deutsche Grenze in der Nähe von Winschoten auf verschiedenen, nicht kontrollierten Feldwegen. Zwei überführten Kraftfahrzeuge, die sie keinesfalls durchsucht wünschten. Zwei gingen zu Fuß, auf deutscher Seite lasen die beiden im Wagen sie auf. Alle vier waren bewaffnet und trugen makellose Papiere bei sich, doch keiner war auf den Namen in seinem Ausweis getauft. Von der Existenz des vierten vernahm die Öffentlichkeit nie.

Die Männer verfolgten einen sorgfältig erdachten Plan.

 

[...]

 

Mittwoch mittag

Bremen, kurz vor dreizehn Uhr; in fünf Minuten ist Mittagspause. An der Sparkassenfiliale Vor dem Steintor biegt in die Nebenstraße Fehrfeld ein alter, mausgrauer Ford Transit und hält. Drei Männer in weiten Trenchcoats entsteigen ihm; einer trägt einen schwarzen Aktenkoffer. Es herrscht reger Verkehr wie stets an diesem belebten Ort. Ihre Gesichter beschwören freundliche Zuwendung nicht, kein Mensch achtet auf sie.

Der Transit rollt weiter; die Männer schreiten zielbewußt auf die Sparkassentür zu. Der erste stößt sie auf; unter ihren Mänteln hervor ziehen sie schwarze Sturmhauben, sich über die Köpfe. Der Kamera im Eingang schenken sie keinen Moment, ihren unmaskierten Anblick aufzuzeichnen. Sie durchqueren den Windfang, halten plötzlich Maschinenpistolen in Händen. Ohne ein Wort der Verabredung, ohne orientierende Kopfwendung feuern sie sechs kurze Stöße ab, die zerstören treffsicher und restlos die sechs Kameras im Schalterrraum. Wenige Sekunden Film zur Auswertung bleiben der Polizei erhalten: Die Waffen sind tschechische Skorpions, Kaliber Neunmillimeter-Parabellum. Die Täter handhaben sie berufsmäßig bündig wie kriegserfahrene Soldaten, sagt später ein Augenzeuge, ein borstiger alter Herr, der zweiundvierzig bis fünfundvierzig sechs Einsätze als Fallschirmjäger überlebt hat.

Die Gangster schweigen beharrlich, bedeuten ihren Willen mit der Skorpionmündung, unmißverständlich genug. Zwei treiben die neun Kunden im Schalterraum nach hinten in eine Ecke, der dritte macht vier lange Schritte durch die bloß angelehnte Panzerglastür zum Kassenraum, ehe ein Angestellter die Verriegelung betätigt. Er jagt eine siebte Garbe in die Decke; vielleicht muß er sich noch Respekt verschaffen, vielleicht befriedigt ihn der Lärm, die Zerstörung. Er packt eine sichtlich hinreichend verängstigte Auszubildende bei den Haaren, drückt ihr die Pistolenmündung unters Kinn.

Sein Komplize stößt mit dem Aktenkoffer zu ihm, winkt dem ergrauten Filialleiter, die Scheine aus der Kasse hinein zu füllen. Daneben steht, Knie aneinander gepreßt, die stellvertretende Leiterin, ihre mit Sorgfalt gewählte Kleidung distinguiert sie nicht mehr, unstet huscht ihr Blick. Der Gangster zwingt ihn bei Fuß, schiebt aufgelöste Frau und Vorgesetzten durch die Tür zum Tresorraum. Offenbar kennt er die Räumlichkeiten genau. Zwei Schlüssel sind erforderlich, den Tresor zu öffnen, einer in der Obhut des Stellenleiters, einer bei seiner Vertreterin. Auch das weiß der Gangster. Er zwingt seine Opfer, den Tresor zu öffnen und die Geldbündel in den Koffer umzuschichten.

Ein Telefon beginnt mit Nachdruck zu läuten.

 

Die Überwachungsstelle der Sparkasse in Bremen lag in einem fensterlosen Raum unterm Dach ihrer Zentrale am Brill; darin reihten Dutzende Monitore sich die Mauern hinauf. Ein Frührentner, der seinen kargen Lebensabend mit einem Zubrot anreicherte, hielt die einsame Wache. Dem Programm, das zu verfolgen ihm oblag, mangelte es an Spannung, sah man ab von den wenigen Momenten, für die es aufgezeichnet wurde.

Verunsichert starrte der Wachmann jetzt auf die sechs Bildschirme der Geschäftsstelle Vor dem Steintor. Sie zeigten Schnee. Keinen davon, ausgerechnet, hatte er während der letzten Minuten beachtet. Bei gestörter Datenleitung fiel schon mal eine ganze Filiale aus, es brauchte nichts zu bedeuten.

Er rief an, aber noch aufs zwölfte Klingeln nahm niemand ab. Vielleicht waren die Angestellten zu beschäftigt, so kurz vor Schalterschluß. Den Wachmann überkam ein ungutes Gefühl. Er besann sich auf seine Aufgabe, nahm das Band aus der ersten Kamera, legte es in ein Abspielgerät, spulte zurück und sah sich die letzten Minuten an. Zu Tode erschrocken alarmierte er die Polizei über eine Direktleitung.

 

Kurz nach zwölf hatte Barsching dem Hauptkommissar Maas auf der Nerz befohlen, sich die Entführer der Outsider beim Barte zu packen. Kurz nach eins erhielt Kramer, Leiter der K31, die Nachricht vom Banküberfall. Seine Faust schlug exakt und mit Wucht auf den Rand eines gläsernen, zum Glück unbenutzten Aschenbechers, der hochwirbelnd nicht Asche sprengte, nur Scherben, als er gegen die Wand prallte. „Was fällt den Hunden neuerdings ein!“ brüllte Kramer und rieb sich die schmerzende Handkante. „Zum Nachtisch ein Banküberfall! Glauben die, wir langweilen uns hier?! Verdammt, früher haben sie uns eine Sache zuende bringen lassen, bevor sie mit der nächsten kamen, die Mistkerle!“

Ihm ging auf, daß er sich vergaloppierte. Bewußt riß er sich zusammen, zwang sich zur Ruhe. Keine verrückten Idealisten, die Seeräuber spielten; ein normales Kapitalverbrechen. Er erholte sich von seinem Wutanfall, rief Barsching an und bat, sich aus dem Fall Outsider ausklinken zu dürfen. Er wolle sich ganz auf den neuen konzentrieren. Barsching, genauso aufgebracht, gab seinem Wunsch statt, verlangte nur, daß Kramer ihn ständig auf dem Laufenden halte.

 

Kramer umstellte die Sparkassenfiliale mit Polizisten in Zivil, unerkannt von den Gangstern, wie er hoffte. Die Kriminalisten verhielten sich abwartend; in ihrem Lehrbuch stand, so isoliere man Bankräuber und könne sie festnehmen, sobald sie zur Flucht auf die Straße hinaustraten.

 

Mittwoch nachmittag

Der Gangster, der in der Schalterhalle die Kunden bewachte, warf alle paar Sekunden einen Blick aus dem Fenster. Er erkannte die Beamten sofort, trotz oder vielleicht anhand ihrer Unauffälligkeit. Er spuckte zwei Wörter in fremder Sprache, die sicher Abstoßendes meinten.

Die drei gerieten nicht in Panik; sie gruppierten um, bildeten eine Igelstellung. Angestellte und Kunden verwandelten sie ohne Umstände in Geiseln, zwangen sie im Schalterraum zu Boden, Hände hinterm Kopf. Einer stellte sicher, daß sie nicht zu atmen wagten. Seine Komplizen besetzten die beiden Gebäudeflanken zur Straße. Geübt vermieden sie, sich ungedeckt in den Fensteröffnungen zu zeigen. Die Maschinenpistolen im Anschlag froren sie ein, verharrten reglos wie ihre Kontrahenten draußen und beobachteten.

 

Drei Blöcke weiter, am Osterdeich, warteten zwei Mannschaftswagen des Sondereinsatzkommandos, die Kramer von der Bereitschaftspolizei angefordert hatte. Er selbst saß auf halbem Wege dazwischen, in Sichtweite der Filiale in einem alten Opel und observierte durchs Seitenfenster. Nichts rührte sich.

Um Viertel nach eins ließ Kramer die Straße sperren und seine Einheit geschlossen aufmarschieren. Ein paar Autonome nutzten die Gelegenheit zu einer spontanen ‚Demo’ und pöbelten. Aber nicht die üblichen Behelmten mit Knüppel und Plastikschild entstiegen den Bussen. Diese trugen ausdruckslose Gesichter unter schwarzen Baretten, waren gerüstet mit Heckler&Koch-Maschinenpistolen und kugelsicheren Westen. Die Demonstranten verdrückten sich.

 

„Kevlar. Wenn ihr schießt, zielt auf die Köpfe“, wies der Anführer der Bankräuber seine Komplizen an.

 

Über sein Autotelefon rief Kramer die Filiale an. Das Freizeichen ertönte kein ganzes Mal, auch zu einleitenden Worten bekam er keine Gelegenheit. Eine kalte Stimme knarrte aus dem Hörer: „Sie wollen mir Folgendes mitteilen: Die Sparkasse ist von sechzig Beamten des SEK umstellt, bis auf den Ausgang zum Hinterhof, aber der führt auf keine Straße und wird ebenfalls gleich abgeriegelt sein. Scharfschützen können alle Fenster und Türen auf die Straße mit gezieltem Feuer belegen. Wir hier drin haben keine Chance, lassen unsere besser Geiseln frei und ergeben uns mit erhobenen Händen. Haben Sie Einwände gegen die Einschätzung?“

„Moment, hören Sie...“, setzte Kramer an.

„Aber ich. Wir verfügen über fünfhundert Schuß Munition, zwölf Handgranaten, neun Geiseln und noch ein paar Spielzeuge. Was uns fehlt, ist ein Wagen, und den werden Sie uns innerhalb der nächsten sechzig Minuten stellen. Ein Mercedes S-Klasse, gepanzert und vollgetankt. Es gibt einen einfachen Test, ob der Wagen wirklich gepanzert ist. Jubeln Sie uns keine Eierschale unter. Sagen wir, Sie haben Zeit bis vierzehn Uhr fünfzehn, dann stirbt die erste Geisel. Geben Sie mir Ihre Nummer. Noch Fragen?“

Kramer hatte keine. Im Gegenteil: neuerdings schienen Situationen seiner Kontrolle zu entgleiten. Die Initiative lag beim Feind wie im Falle der verfluchten Outsiders. Wieder rief Kramer sich zur Ordnung, er wies die Verunsicherung von sich. So war es immer zu Anfang. Man mußte scharf aufpassen, sich in Geduld üben und Gelegenheiten nutzen, die sich boten. Vielleicht begingen die Gangster einen Fehler, wenn sie das Gebäude verließen.

Sein Assistent blickte ihn fragend an.

„Sie ham’s doch gehört“, schnauzte Kramer. „Besorgen Sie den Wagen, und wenn Sie den vom Bürgermeister klauen müssen. Beeilung, um Himmelswillen!“

Während der nächsten Stunde geschah innerhalb der polizeilichen Absperrung nichts. Außerhalb stauten sich Straßenbahnen, Privatautos und Schaulustige.

Schaulustig von Berufs wegen war Jutta Ohlrogge von Radio Bremen. Auf ihre Anweisung schob sich ein Übertragungswagen vorsichtig durch die Massen bis dicht vor die Absperrung. Oben im Dachluk führte er eine Fernsehkamera wie schweres Geschütz.

 

In der Filiale wählte der Anführer sicheren Urteils die Geisel, die ihn und seine Mitkämpfer auf der Flucht begleiten würde: eine verschüchterte Kassiererin, höchstens achtzehn, blond, ziemlich apart, wahrscheinlich erst in der Ausbildung. Die übrigen acht fesselten sie mit Kabelbindern und legten sie in einer Ecke ab.

 

Frau Ohlrogge drang nicht zu Kramer vor, seine Leute wimmelten sie ab. Ein Wachtmeister warf ihr zwischen den Zähnen ein paar Brocken Information hin, ihren knurrenden Hunger dürftig zu stillen.

Kramer dachte nach und beriet sich mit Barsching. Sie stimmten überein, die Gangster ernst zu nehmen. Hier drohte kein kleiner Gauner, dessen Nerven durchgingen, mit einem Panikmord. Kalt berechnete Hinrichtungen galt es zu verhindern, darum peinlich genau alle Forderungen zu erfüllen, bis im Wachsamkeitspanzer der Verbrecher sich ein Spalt auftat, in den ein Brecheisen anzusetzen sich lohnte.

Die erwarteten kein Entgegenkommen, das sie nicht gefordert hatten, soviel lehrten Kramer seine Erfahrungen mit dem Selbstverständnis von Geiselnehmern. Sie hätten allzu willige Eingehensbereitschaft sogar verlacht als Anbiederung und sich mehr Ungeheuerlichkeiten heraus genommen. Manche waren intelligent genug, keine Zugeständnisse zu verlangen, deren Einhaltung sie nicht prüfen konnten.

Kramer zog weder die Scharfschützen ab, noch verzichtete er drauf, den Fluchtmercedes mit Wanze und Sender zu impfen. Der traf jetzt ein; durch die Menge der Gaffer fuhr mit Blaulicht und Sirene ein Streifenwagen vor, bahnte ihm eine Gasse. Beide Wagen stoppten forsch. Gleichen Moments klingelte Kramers Telefon.

„Lassen Sie den Wagen breitseits vor der Lobby halten. Laufender Motor. Die Türen zu unserer Seite offen, die anderen geschlossen, ebenso die Fenster. Gut. Jetzt in der Absperrung einen Durchgang öffnen. Pfeifen Sie Ihre Männer zurück, und schaffen Sie die glotzende Herde weg, damit wir uns den Weg nicht freischießen müssen. Im Umkreis von dreißig Metern um den Eingang will ich keinen Menschen sehen; im Umkreis von hundert Kilometern um Bremen keinen Hubschrauber und kein Fahrzeug mit Behördenkennzeichen. Sonst ist die Geisel tot, klar?“

Soweit zum Wirklichkeitssinn, dachte Kramer und gab weiter, die Anweisungen auszuführen, soweit der Bremer Polizei Arm reichte. Die Tür zur Filiale öffnete sich, ein Maskierter erschien im Schatten des Eingangs. Offenkundig wußte er, daß er dort im toten Winkel der Scharfschützen stand. Seelenruhig ging er in die Hocke, feuerte eine einzelne Kugel unten in den Kotflügel des Fluchtwagens. Sie schlug nicht durch; prallte, nur eine Beule hinterlassend, zurück und klatschte in die Gebäudewand. Der Mann nickte und zog sich zurück.

Sekunden später tauchte in der Tür eine Geisel auf, eine junge Frau, ihr Kopf eingespannt in die Mündungen dreier Maschinenpistolen. Zwei Gangster führten sie in ihrer Mitte; der Anführer hielt sich in ihrem Rücken. Er trug in der Linken den Geldkoffer.

Kramer dachte an finalen Rettungsschuß. Wies er den Scharfschützen je einen Gangster zu, trafen sie und töteten, darauf durfte er bauen. Doch selbst wenn alle zusammen erst auf Feuerbefehl abdrückten, fielen die Schüsse nicht gleichzeitig genug; die winzige Verzögerung dazwischen konnte einem der Bankräuber reichen, den Finger krumm zu machen – und sei es im Reflex, den der Aufprall der Kugel auslöste. Ergeben befahl Kramer seine Schützen zurück. Nein, im Augenblick machten die Gangster keine Fehler.

Sie stießen ihre Geisel auf den Wagenrücksitz und schoben sich von der Kramer abgewandten Seite hinterher. Ihr Anführer nahm hinten Platz. Der Motor heulte auf, und der Wagen schoß durch die enge Gasse der Schaulustigen zu auf die Sielwallkreuzung. Dort bog er nach links, beschleunigte auf achtzig Stundenkilometer und raste entlang des Osterdeichs mit höchster Geschwindigkeit stadtauswärts.

Die Gangster rechneten mit Wanze und Sender im Wagen, sie sprachen nicht. Ihren Absetzplan kannten sie auswendig. Am Osterdeichende bogen sie links in die Föhrenstraße ab und gleich rechts auf den Autobahnzubringer Hemelingen. In dieser Phase blieb ihnen keine Zeit, aber sie drosselten auf fügsame Stadtgeschwindigkeit, um keine Privatverfolgung durch Gaffer nachzuschleppen.

Kein Streifenwagen patrouillierte zufällig des Weges. Barsching selbst hatte alle zurückbefohlen, und seien sie nur durch eine Behördennummer nach außen kenntlich.

 

Kramers Assistent vernahm die verstörten aber erleichterten und überwiegend gesprächigen Überfallopfer. Kramer selbst stieg um in einen Befehlswagen. Auf dem Monitor verfolgte er den Weg der Gangster anhand des Sendeimpulses. Der blinkende Punkt wanderte zügig über den hintergeblendeten Stadtplan, fädelte sich vom Zubringer in die Autobahn eins Richtung Hamburg. Kramer fragte sich, wann er riskieren durfte, seine Spürhunde loszulassen, und schloß, er habe zu lange schon gewartet.

Am Bremer Kreuz überbrückt die Bremerhavener Autobahn siebenundzwanzig die Eins. Im Moment, da der Fluchtmercedes drunter hindurch fuhr, fiel das Peilsignal aus. Ein paar Kilometer nördlich ragen Radio Bremens Sendemasten; ihren störenden Impulsen schoben Elektroniker später die Schuld zu. Kramer schluckte trocken. Sternförmig Richtung Hamburg, Bremerhaven und Hannover jagten auf qualmenden Reifen je zwei Fühlunghalter los.

Fünf Minuten später leuchtete das Signal wieder, aber es rührte sich nicht: Patzig verharrte es bei Raststätte Oyten. Kramer räusperte sich heiser, parierte seine in die Irre ausgeschwärmten Wagen durch, trieb sie, nach Oyten zu stürzen, wie herrenlose Materie in Schwarze Löcher! den Wagen aufzufassen, aber stracks. Er wußte, er hatte entscheidende Minuten verloren.

 

Diese Minuten zurück

Der Fluchtmercedes blinkte rechts, schob sich hinüber auf den Abbremsstreifen und rollte auf den Rastplatz. Dort parkte abseits der graue Transit, in ihm waren die Bankräuber vorhin an der Sparkasse vorgefahren; mit ihm hatten sie vor ein paar Tagen die niederländische Grenze überschritten. Unbemerkt hatte der vierte illegale Grenzgänger ihn hierher überführt.

Die Bankräuber warteten einige Sekunden, bis niemand beobachtete, wie sie ausstiegen, verstauten ihre Geisel fest im Laderaum des Transporters, so daß sie weder gesehen werden, noch selbst etwas sehen konnte, warfen die Türen hinter sich zu und zogen endlich die verschwitzten Sturmhauben von ihren Gesichtern.

 

Seit vier Wochen trampte Jens Giersch, Student der Rechtswissenschaften, unter der Last seines Rucksacks durch Deutschland. Das war nicht nur die billigste Art, Urlaub zu machen, und für ihn die einzig in Frage kommende, er fand sie auch am interessantesten. Seit einer Woche aber liefen die Vorlesungen wieder; es zog ihn zurück in seine Heimatstadt Kiel. Mittags schon hatte er gehofft, dort zu sein, doch nagelte ihn das Anhalterpech fest an dieser verlassenen Raststätte.

Der fehlte sogar die Tankstelle, sie löschte nicht mal den Durst der zwanzig Meter entfernt sausenden Blechkäfige. Und den der Insassen, dachte Jens und seufzte, fachte sie mit gesalzenen Preisen erst an. Hier seinen Hunger zu stillen, konnte er sich nicht leisten.

Natürlich stockte sein Fortkommen seit Reiseantritt in Kiel nicht zum ersten Mal, er wappnete sich geübt in Gleichmut. Aber als ein Mann in dunklem Trench ihn ansprach, nach seinem Ziel fragte, frohlockte er. Kalte Augen aus zerschlagenem Gesicht blickten ihn bohrend an. Einzig scharfe Gesichterbeurteilung versicherte den Tramper gegen Verbrechen. Von diesem konnte Jens der Polizei später eine genaue Beschreibung liefern.

„Kiel“, sagte er, und der düstere Mann antwortete: gut. Jens folgte ihm zum Wagen, einem schwarzen Mercedes S-Klasse. Er griff schon nach der Beifahrertürklinke, da fragte der wortkarge Herr im Trench, ob er fahren könne. Überrascht sagte Jens, klar, und wies seinen Führerschein vor. Der andere schlug ihm ein Geschäft vor. Er habe mobiltelefonisch umdisponieren müssen, suche jetzt einen, der seinen Wagen nach Kiel an eine bestimmte Adresse abliefere. Er riß aus seinem Notizbuch ein Stück Papier und schrieb sie aufs Wagendach gestützt nieder. Seiner Brieftasche entnahm er zwei Hundertmarkscheine, drückte Jens Zettel und Geld in die Hand. Sich zur Versicherung, so gab er an, notierte er Jens’ Führerscheinnummer.

Staunend über die Wendungen des Tramperlebens warf Jens seinen Rucksack in den Kofferaum und sich in den Fahrersitz. Er saß zum ersten Mal in so einem stark motorisierten, so luxuriös ausgestatteten Gefährt, er trat aufs Gas. Wo es der Verkehr zuließ, trieb er die Geschwindigkeit auf zweihundert Stundenkilometer. Dann probierte er das Autotelefon und rief seine Freundin in Kiel bei der Arbeit an.

 

Im Befehlswagen merkte Kramer, daß der Sendepunkt weiter rückte. Sofort korrigierte seine Order erneut. Die getarnten Polizeiwagen rasten am Rastplatz vorbei und verpaßten, wie dort ein grauer, alter Ford Transit anrollte. Nur kurz reihte er sich wieder in den Fluß auf der Autobahn, schon nach zweihundert Metern an der Oyter Ausfahrt verließ er sie. Auf der Bundesstraße 75 bummelte er gemächlich zurück nach Bremen.

Fünf Kilometer Richtung Hamburg mußte Jens Geschwindigkeit drosseln. Der Verkehr verdichtete merklich. Ein Passat überholte ihn, der Beifahrer warf einen gleichgültigen Blick herüber. Jens wunderte sich nicht, immerhin sah er nicht aus, wie zumindest er sich Mercedesfahrer meist vorstellte.

Im Rückspiegel rückten ein Mondeo und ein Astra ihm dicht auf die Stoßstange. Er kam nicht dazu, sich zu ärgern. Noch ein Passat setzte an zu überholen und – sah Jens verblüfft, dann erschrocken – schob sich gegen seinen Kotflügel; ein Strahl von zu schnell gefahren bis Mafia schoß ihm von hinten schräg durchs Gewissen, der wollte ihn aus der Spur rempeln! Hastig nahm er Gas weg und wich aus auf den Seitenstreifen. Eine Stopkelle klappte aus dem Seitenfenster seines Bedrängers, vor und hinter ihm kamen die anderen drei Polizeifahrzeuge jäh zum stehen. Bevor Jens einen Gedanken faßte, stürmten von hinten und vorn je vier Männer mit gezogenen Pistolen auf ihn zu, rissen seinen Schlag auf, zerrten ihn aus dem Sitz und warfen ihn gegen den Wagen.

 

Zehn Minuten später wußte Kramer, wie  die Gangster seine Leute abgehängt hatten. Nur mehr die Lippen zum weißen Strich verkniff er; der Fluch rüttelte vergeblich am Gitter seiner verbissenen Zähne.