Die folgende Leseprobe ist ein Auszug aus meinem Roman "Stillwasser" Alle Rechte daran, wie auch am ganzen Roman liegen bei mir. Ausdruck und Vervielfältigung ist ohne meine ausdrückliche Genehmigung nur für private Zwecke gestattet.

Wenn Ihnen die Probe gefällt, und Sie weiterlesen möchten, nehmen Sie doch einfach Kontakt mit mir auf:

Patrik Grönzin, Ansbacher Straße 27, D-28215 Bremen, JPGroenzin@aol.com

1.

Selbst wenn man mit ihnen im allgemeinen klarkommt, stellen einen Eltern doch manchmal vor ernst zu nehmende Probleme, sinnierte Jonny. Unter anderem gelingt es ihnen nicht zu begreifen, daß Jungs in der zehnten Klasse das Bedürfnis haben, eigene Urlaubspläne zu machen und auch durchaus dazu in der Lage sind. Nee, nee.

Er seufzte und schob achtlos einen Stapel Sportschifferkarten der englischen Südküste auf seinem Schreibtisch zusammen. Sie würden doch nicht zum Einsatz kommen. Dieses Jahr jedenfalls nicht. England! Mußte es nicht großartig sein, die Seefahrernation überhaupt von See aus anzulaufen? All die berühmten Orte und Häfen anzusteuern, deren Namen Leuten wie Nelson, Howe, Hood und St.Vincent (nicht zu vergessen Hornblower) so vertraut geklungen haben müssen: Portsmouth, Torbay, Start Point, Plymouth, Lizard Point. Dabei wäre dieses Jahr so günstig gewesen.

Nicht seinen eigenen Eltern galten seine trübsinnigen Betrachtungen, sondern denen seines besten Freundes und sonstigen Vorschoters Jan. Sie hatten Jan einfach für sechs Wochen mit nach Miami genommen, noch vor Ferienbeginn, ohne erst lange nach seiner Meinung zu fragen.

Jonny traute sich wohl zu, allein im Watt zu segeln, aber nach Cornwall? Nordsee, Kanal? Das war echtes Abenteuer, da brauchte er schon einen guten und zuverlässigen Bootsmann. Außerdem machte es nur halb soviel Spaß allein.

Jonny blickte vom Schreibtisch auf, aus dem Fenster. Durch die triefenden, grauen Regenschleier konnte er das vertraute Bild der Außenweser kaum noch erkennen. Nur die leuchtenden Farbflecke der roten Backbord- und der grünen Steuerbordtonne gegenüber stachen durch die trüben Vorhänge. Jonny mochte die grüne Tonne auf der von See kommend rechten Fahrwasserseite lieber.

Seit Tagen goß es schon so. Bremerhaven gewöhnte sich langsam an die kriechende Nässe und den Anblick glänzenden, gelben Ölzeugs. Und das Anfang Juli.

Doch Jonny störte das Wetter nicht weiter. Es entsprach seiner Stimmung. Mißmutig nahm er zum hundertsten Mal den dicken Packen Informationsmaterial zur Hand, dessen Inhalt ihm so Kopfzerbrechen bereitete. Ganz obenauf lag ein kurzer Ausriß aus der ‘Yacht´ mit der Überschrift "Falmouth Classics 92".

"Am 6. August dieses Jahres", stand dort, "beginnt in Falmouth, Cornwall wieder das alljährliche Treffen traditioneller Segelboote. Eine Woche lang wird das ehemalige Fischer- und Schmugglerstädtchen am westlichsten Zipfel Englands in festlichem Glanz erstrahlen, belebt durch Hunderte von Schaulustigen und zahlreiche Gastboote. Höhepunkt der Festlichkeiten wird die große gemischte Regatta der Gaffel- und Traditionssegler verschiedener Klassen und das anschließende Falmouth Working Boats Race sein, einer Klasse für den Landstrich typischer, außerordentlich schneller und seetüchtiger Austernfischer von 23 bis 28 Fuß und bis zu 92 qm Segelfläche. Abgeschlossen wird das Ereignis durch Siegerehrung, Tanz und Feuerwerk."

"Und wegen Jans Eltern kann ich nicht teilnehmen", knurrte Jonny. "Warum hat der Trottel sich nicht einfach geweigert? Was will er denn bloß da drüben in Florida?"

Nicht mal bei der Abschlußklassenfahrt nach Lauwersoog, die morgen begann, würde er dabei sein. Projektfahrt nannte sich das Ganze hochtrabend und Jollensegeln sollten sie dort lernen. Jonny würde sich ganz schön langweilen, noch dazu ohne Jan. Herumkreuzen auf dem zwar schönen, aber abgeschlossenen Lauwersmeer, kein Abenteuer, keine Herausforderung. Doch Teilnahme an irgendeinem Projekt war Pflicht, und so konnte er immerhin ein bißchen segeln. "Wenn ich wenigstens Filibuster mitnehmen könnte." Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er plötzlich vor den Augen der staunenden Segelschüler mit eigenem Boot dort aufkreuzen, ein schneidiges Anlegemanöver mit haarscharfem Aufschießer zehn Zentimeter vor dem Steg hinlegen, dann eiskalt an Land steigen und nur sagen würde: "Was glotzt ihr denn so?" Er kannte Lauwersoog, war letztes Jahr mit Jan schon dagewesen.

Quatsch. Kein Jan, keine Filibuster in Lauwersoog und keine Regattateilnahme am Falmouth Classics. Nur Regen und eine Projektfahrt zwecks Palstek-Üben.

"Jonny! Essen!" rief seine Mutter von unten.

"Ja-ha!"

Wo sein Großvater so stolz gewesen wäre, wenn sein Enkel statt seiner das Falmouth Classics Race zu ende gesegelt hätte.

"Jonny! Hast du nicht gehört? Essen ist fertig!"

"Jadoch, ich komme ja schon." Jonny hievte sich vom Schreibtisch hoch und stakte die Treppe hinunter in die Küche.

Er aß schweigend, aber mit großem Appetit sein Mittagessen. Schlechte Laune schlug ihm nie auf den Magen. Auf alles andere, aber nie auf den Magen.

"Daß du immer soviel reden mußt!" beschwerte sich seine Mutter, "Laß mich doch auch einmal zu Wort kommen!"

"Hmpf."

"Ich verstehe überhaupt nicht, was du hast." Frau Ahlers stemmte die Hände in die Hüften. "Was ist nur los mit dir? Du hast eine interessante Klassenfahrt vor dir, bei der du segeln kannst und ständig nette Leute um dich rum hast. Und Mädchen. Du könntest eigentlich mal anfangen, dich für Mädchen zu interessieren. Was willst du denn unbedingt nach Cornwall?"

Oh, verdammt, als ob er nicht anderes im Kopf hätte. Dauernd versuchte seine Mutter, ihn zu verkuppeln. Was brauchte er Mädchen, wenn er die See haben konnte? Aber er schluckte seinen Ärger herunter. Sie wußte es halt nicht besser.

"Ich habe es dir doch schon tausendmal erklärt:" setzte er ihr geduldig auseinander, "An der Regatta teilnehmen will ich."

"Ja, aber: Geht das denn überhaupt? Filibuster ist doch ein Schwertboot und gar kein echtes Falmouth Working Boat."

"Ach. Muddern, mein Großvater, dein Vater ist diese Regatta jedes Jahr mitgesegelt, buchstäblich bis zu seinem Tod. Nicht die reine Working Boat Regatta sondern die allgemeine, an der aber die Working Boats auch teilnehmen, sozusagen außer Konkurrenz. Und er hat sogar die Working Boats ausgesegelt und beinahe gewonnen..."

"Nur, daß er sich dabei übernommen hat, und sein altes Herz nicht mehr mitspielen wollte, kurz vor der Ziellinie. Dickschädeliger alter..." Frau Ahlers schüttelte den Kopf, nach vier Jahren noch immer verständnislos über die Launen ihres Vaters.

"Eben."

"Was, eben?"

"Deswegen muß ich sein letztes Rennen zuende führen. Darum hat er mir die Filibuster vererbt", beharrte Jonny hartnäckig.

Frau Ahlers betrachtete ihren Sohn einen Moment lang nachdenklich. "Aber das muß doch nicht unbedingt dieses Jahr sein. Das Rennen findet doch immer wieder statt. Und mit jedem Jahr hast du auch mehr Segelerfahrung."

"Dieses Jahr ist aber besonders günstig. Das Rennen liegt zeitlich genau in der Mitte der Ferien. Sonst hätten wir nie eine Chance, rechtzeitig hin und wieder zurück zu kommen."

"Dein Vater würde dir die Fahrt über die offene Nordsee verbieten."

"Das würde er nicht. Er weiß ja, daß er es nicht verhindern könnte." erwiderte Jonny mürrisch.

"Aber er würde sich große Sorgen machen. In zwei Wochen kommt er wieder, weißt du das eigentlich?"

Jonny nickte. Natürlich wußte er, wann sein Vater von See kam. Warum mußte sich seine Mutter ständig wiederholen? Immer die gleichen Fragen, immer die gleichen Einwände. Als wüßte er nicht selbst genau, was er sich vorgenommen hatte. Oder hätte. Diese fruchtlosen Diskussionen hingen ihm zum Hals raus.

"Ich fahr‘ noch mal zum Boot raus", erklärte er, stand auf und zog sich seine Jacke über.

"Hast du schon gepackt?" rief Frau Ahlers hinter ihm her.

"Mach‘ ich heute abend!"

"Du wirst vollkommen durchregnen!" Aber das hörte er durch die geschlossene Haustür schon nicht mehr.

In einem behielt Frau Ahlers recht. Jonny war schon nach den ersten drei Minuten auf dem Rad vollkommen durchnäßt. Aber an Land machte ihm das nichts aus, auch wenn er es nicht gerade darauf anlegte. Auf See verpackte er sich in Ölzeug, sobald es nach Regen aussah. Auf See gab es aber auch keine Zentralheizungen, über denen man nasse Klamotten wieder trocknen und sich aufwärmen konnte.

Tief über den Lenker gebeugt jagte er durch die glitzernden Straßen zum Handelshafen. Dort sprang er vom Rad, schob es durch die Pforte und warf es gegen den Zaun. Das Wetter würde eventuellen Fahrraddieben ja wohl die Lust verderben.

Die Schultern hochgezogen, die Fäuste in die Taschen gerammt schlenderte er die Pier entlang zum Liegeplatz der Filibuster und betrachtete sie gedankenversunken. Sie wies noch eine ganze Menge Ähnlichkeit mit den Working Boats auf - ein klassischer englischer Gaffelkutter: Der gerade Steven, der lange Bugspriet, der stark überhängende Herzspiegel. Der Hauptunterschied zu den Working Boats bestand in der kleinen Kajüte mit zwei Kojen unter der Back und, was man nicht sehen konnte, in dem großen dreieckigen Ballastschwert anstelle des langen Kiels. Aber ihre Linien waren genauso elegant und schnell und die Holzverarbeitung genauso robust, wie bei ihren Vorbildern.

"Mädchen!" knurrte Jonny verächtlich in seinen Kragen. "Welches Mädchen ist wohl so schön wie mein Boot?"

Er sprang ins Cockpit, schloß den Niedergang auf und verzog sich vor dem Regen unter Deck. Dampf stieg aus seinen Kleidern auf und kondensierte auf den hölzernen Planken des Kajütdachs. Durch die Lüftungsschlitze in der Niedergangstür konnte er den Regen ins Cockpit trommeln sehen. Er zog sein Tagebuch aus dem Schapp unter dem kleinen Navigationstisch und begann zu schreiben, ohne zu merken, daß große Wassertropfen von seiner Nase aufs Papier patschten.

Sieh nur! Todesmutig stürzen sie sich aus unbekannten Höhen zur Erde, kleine durchsichtige Kobolde mit komisch verzogenen Gesichtern. Was tanzen sie für ein Ballett im öligen Hafenwasser. Springen nach dem Eintauchen sofort wieder hoch, reißen die Arme hoch und stoßen dabei kleine Schreie aus. Sie inspirieren sich gegenseitig, berühren und stoßen sich spielerisch mit ihren feuchten Hoolahoop-Reifen. Ein Massenaerobic der Regentropfen, zu dem ihre unglücklichen Kameraden, die beim Aufprall aufs Kajütdach qualvoll zerquetscht stöhnend ihr Leben aushauchen, eine alte und rauhe Geschichte erzählen.

Wie kommt es, daß das Wetter im Haus an Land so häßlich und anödend ist, während es hier an Bord in kaum vertrauterer Umgebung geradezu friedfertig und anheimelnd wirkt? Was soll ich mit lauter nervigen Klassenkameraden. Warum darf ich nicht raus in die unfreundliche Weite der Nordsee, die bei aller Hektik immer noch weit mehr Ruhe ausstrahlt, als es allem Menschlichen jemals möglich sein wird.

Es muß jetzt sein, dieses Jahr, auch wenn mich beim Gedanken daran nicht nur Freude sondern auch Angst packt.

2.

Kim freute sich immer aufs Reisen, besonders aber auf diese Klassenfahrt - so sehr, daß sie sich zusammenreißen mußte, um das nicht, wie sie meinte, auf unwürdige und allzu kindliche Weise kundzutun.

"Mama! Soll ich den weißen oder den schwarzen Badeanzug mitnehmen?"

"Mein Gott, Kind, du fährst doch nicht in die Karibik! Da im Watt gibt es nur Schlick und Teer und die Sonne scheint auch nicht!"

"Wenn ich dort ankomme, scheint die Sonne!" behauptete Kim eigensinnig. "Also welcher ist sexier? Was ist eigentlich die Steigerung von sexy?"

"Tut mir leid, keine Ahnung. Und wenn ich das mit zweiundvierzig noch nicht weiß, mußt du das mit fünfzehn auch noch nicht wissen."

Kim lächelte über sich selbst und gab ihrer Mutter insgeheim recht. Sie benahm sich reichlich albern, ungefähr so wie diejenigen unter ihren aufgedonnerten Klassenkameradinnen, über die sie bevorzugt lästerte. Ohne sonderlich schlechtes Gewissen entschuldigte sie sich vor sich selbst mit ihrer Vorfreude.

Abwechselnd hielt sie sich beide Badeanzüge vor ihren schlaksigen Körper und begutachtete nachdenklich ihr Spiegelbild. Hm, wenn sie den Kopf neigte, die dunklen Haare über die Augen fallen ließ und die Lippen leicht öffnete, wirkte sie im schwarzen Badeanzug... Sie kniff die Augen zusammen. "...verrucht, genau das ist es."

Im weißen, mit Schmollmund und unschuldig weit geöffneten Augen fand sie sich ebenfalls verführerisch, aber ganz anders. Hm. "Ich werde sie am besten beide mitnehmen."

Sie stopfte sie in die schon fast volle Tasche, zog den Reißverschluß zu und streifte Jeans und Troyer wieder über. Letztlich fühlte sie sich doch wohler so.

Unter ihrem Fenster stritten sich schon seit zehn Minuten lautstark zwei betrunkene Seeleute. Sie verstand aber nicht worüber. Ihr fiel ein, daß sie gar nicht genau wußte, wo Lauwersoog eigentlich liegt. Egal. Segeln war die Hauptsache, wo, kümmerte sie nicht.

Ach, Segeln! Konnte es Herrlicheres geben, als ein lebendiges kleines Boot unter den Füßen, eine vibrierende Pinne in der einen und den Zügel der Großschot in der anderen Hand, über leichte Wellen zu reiten, eine weiße Schleppe hinter sich her zu ziehen und dabei den sauberen Geruch des Seetangs in der Nase zu spüren?

Sie warf sich aufs Bett und genoß lang ausgestreckt die Freude, die durch ihren Körper pulsierte. Eine Woche Segeln in Holland von morgens bis abends. Schade nur, daß sie ihre eigene Jolle nicht mitnehmen durfte. Zur Schule dort gehörten doch sicher Plastikboote, nicht so schön wie ihr kleiner, hölzerner Pirat.

Nein, so ging es nicht, Musik mußte her. Sie sprang wieder auf, schob Rod Stewart in den CD-Player, und ließ sich von ihm die Großartigkeit des Segelns besingen: "I am sailing". Stellte sich in die Mitte des Zimmers, legte die Arme über den Kopf, schloß die Augen und ließ sich wegtragen. Wiegte sich leicht im langsamen Rhythmus, ohne den Text zu hören, während sie durchs Wasser schnitt, über Wellen glitt, der Wind ihr die Haare ins Gesicht blies, das Boot sich unter dem Druck des Großsegels voller Kraft und Spannung überlegte und doch von ihr beherrscht, sie bis ans Ende der Welt trug...

"Was machst du denn da?!"

Kim schrak zusammen. Ihre Freundin Lotte stand plötzlich im Zimmer. Obwohl sie Lotte die meisten sie bewegenden Dinge anvertraute, fühlte sie sich jetzt ertappt und ziemlich gestört.

"Deine Mutter hat mich rein gelassen und hoch geschickt", entschuldigte sich Lotte, als sie Kims Gesicht sah. "Hast du die Klingel nicht gehört? Ich wollte dich fragen, ob wir noch zu Mario gehen, ´n Eis essen."

Kim schaltete den CD-Player aus. "Von mir aus, machen wir das. Mit Packen bin ich fertig. Regnet‘s noch?"

"‘türlich."

12.

....

Trotz des schwachen Windes kamen sie gut voran. Eine riesige bluttriefende Sonne berührte gerade den Horizont, als sie vor dem Minsener Oog standen. Ohne sich weiter zu verabreden, passierten sie die Tonne 20 und rundeten die Buhne. Kim starrte verträumt voraus.

"Sieh mal, sie schalten den Leuchtturm an. Ist das nicht schön?"

"Das ist das Wangerooger Seefeuer. Hinter uns auf Mellumplate auch." Jonny bezweifelte allerdings, ob er das ebenso schön fand. Es führte ihm nur noch deutlicher vor Augen, daß die zunehmende Dunkelheit trotz des klaren Wetters die Sichtweite jetzt von Minute zu Minute weiter beschränkte, und kennzeichnete den Beginn einer aufreibenden Nachtnavigation. Dabei fühlte er sich jetzt schon ziemlich müde. Kim schien von Müdigkeit nichts zu spüren.

Jonny tauchte nach unten, schaltete das Echolot an und holte den Peilkompaß. Wangerooge peilte 262 und das Minsener Oog, Buhne A 151 Grad. Also befanden sie sich genau zwischen Tonne 16 und 18. "Was sagt das Echolot?"

"Über zwanzig Meter."

"Dann luv mal an und geh langsam übers Fahrwasser rüber. Sag mir Bescheid, wenn du fünf Meter Tiefe hast."

"Okee."

Kaum merklich senkte sich die Dunkelheit der ersten Nacht dieser großen Reise über die beiden in ihrem kleinen Boot. Immer mehr Lichter tauchten funkelnd am Horizont auf. Tonnen blitzten einäugig durch den Abend. Ihre klaren, grünen und warmen, roten Lichter blinzelten gleichgültig zu ihnen herüber. Was kümmerte es sie, ob der kleine Kutter unangefochten durchs Wangerooger Seegatt kam, oder nicht?

Jonny kattete den Anker mit dem kleinen Klappdraggen, klarierte die Leine und legte beides klar zum werfen, für den Fall, daß...

"Fünf Meter", meldete Kim. "Und der Wind ist fast eingeschlafen."

"Versuch´ jetzt immer, die Fünfmeterlinie entlang zu fahren. Das ist Kompaßkurs ungefähr 290 Grad. Und laß mich mal an den Jockel ran." Jonny startete den Außenborder, barg die schlaffe Leinwand und zurrte sie fest. Heute Nacht brauchten sie die Segel nicht mehr.

Dafür mußten sie mit dem Benzin sparsam umgehen. Jonny drosselte die Maschine und sah auf die Uhr. Viertel nach neun. "Geht das mit der Fünfmeter-Linie?"

"Jo, ganz gut. Die verläuft tatsächlich genau 290 Grad."

"Wenn ziemlich recht voraus ein weißes Feuer mit acht Sekunden Wiederkehr auftaucht, sag Bescheid."

"Jawoll. Was ist das?"

"Die Ansteuerungstonne für das Seegatt."

Jonny nahm fortlaufend Peilungen, die einzige Möglichkeit, ihre Geschwindigkeit zu messen und damit das Kentern des Stroms genau abzupassen. Als die Standlinien vom Wangerooger Seefeuer sich kaum noch verschoben, erhöhte er die Fahrt.

"Da ist die Tonne." Kims voraus deutender Arm hob sich nur noch als dunkler Schattenriß gegen den samtigen Himmel ab.

"Halt‘ darauf zu."

"Jawohl, Herr Kapitän." antwortete Kim plötzlich wieder scharf.

"Tut mir leid", entschuldigte sich Jonny. "Was vor uns liegt, ist ziemlich haarig, und ich bin nervös, nimm‘s mir nicht übel."

Kim seufzte. Schon wieder benahm sie sich albern. Und er entschuldigte sich, gab seine Nervosität sogar zu. Sie kannte wenige Jungen, die ihrer Würde das zugemutet hätten.

Nach Jonnys letzter Peilung standen sie nur noch eine Meile nordöstlich des Harleriffs. Der Wangerooger Leuchtturm genau querab fegte mit seiner rotierenden Lichtsense über sie hin. Jonny versuchte herauszufinden, wie stark der Strom sie inzwischen versetzte, und behielt den Leuchtturm und die Tonne haarscharf im Auge. Noch drifteten sie nicht merklich auf das Riff zu, aber Filibuster spürte die Flut schon deutlich. "Zweihundertsiebzig Grad", befahl er.

"Zwo-sieben-null, aye."

Jonny kramte den starken Handscheinwerfer hervor, von dem er hoffte, er verbessere ihre Chancen wenigstens ein bißchen, die unbeleuchteten Tonnen noch rechtzeitig, bevor sie drauf brummten, zu erkennen.

Er peilte die Anlauftonne und das grüne Feuer 7 des nördlich verlaufenden Hauptfahrwassers ein. Der Wangerooger Leuchtturm wanderte rasend schnell achteraus.

"Jetzt hat uns die Flut voll erwischt. Steuer‘ mal wieder dreihundert Grad, und leuchte mit dem Scheinwerfer voraus. Wenn du eine grüne Spitztonne siehst..."

"...sag Bescheid, ich weiß", vollendete sie. Und kurz darauf: "Eine Spitztonne sehe ich nicht, aber eine rote Stangentonne etwas an Backbord."

"Wo?! Verdammt, das ist schon die H2! Die müssen wir unbedingt an Backbord lassen. Steuerbordruder, 330 Grad und volle Kraft voraus!" Hastig drehte er selbst den Gashebel am Außenborder ganz auf.

"Schaffen wir‘s?" Die Tonne wischte in nur noch fünfzig Meter Entfernung durch den Lichtkegel der Lampe, und ihre Kennung konnte sogar Jonny im schwachen Scheinwerferlicht deutlich lesen. Es war die H2.

"Ich glaube nicht", antwortete Kim, die langsam von Jonnys Unruhe angesteckt wurde. Die undurchsichtigen, dunklen Spinnennetze der Nacht und der Umstand, daß sie von den Schwierigkeiten nächtlich blinder Navigation nichts geahnt hatte, als sie Jonny zu diesem Törn anstiftete, drückten ihr aufs Gemüt. Im Augenblick wußte sie nur, daß überall um sie herum Sandbänke lauerten, auf die der mächtige Flutstrom sie schieben wollte, und höchstens sehr ungefähr, wo genau sie sich eigentlich herumtrieben. "Was soll ich machen?"

"Dann laß sie so dicht wie möglich an Steuerbord, müßte eigentlich passen." Jonny überzeugte sich mit einem schnellen Blick nach unten, daß das Schwert ganz hoch gekurbelt war. Als er wieder nach vorn lugte, tanzte die Tonne schon dicht vor ihnen, weit überliegend unter dem Ansturm des Stromes, und das Wasser strudelte und gurgelte um ihren Körper, als wollte es sie herunter schlingen wie ein saugender Mund.

"Hart Backbord. Neuer Kurs einhundertneunzig." Jonny leuchtete mit der Lampe nach vorne und beobachtete das Echolot. Zwischendurch überprüfte er am Kompaß, ob Kim Kurs hielt. Doch das konnte sie prima. Wenn nur der Strom sie nicht so mitgerissen hätte. Wie die Ebbe verrann rasend die Zeit.

Immerhin brauchen wir keine Kollisionen zu fürchten. Solche Spinner wie wir sind hier und jetzt wohl nur wenige unterwegs, fuhr es Jonny durch den Kopf. Sehr tröstlich. Seine Augen brannten, die Lichter des Leuchtturms verschwammen zu Sternen.

Zweimeterfünfzig, zweidreißig, sie näherten sich der Barre. Da war die Tonne H3, diesmal wirklich grün und spitz. Noch zwei Minuten, dann..."Einhundertfünfzig Grad!"

"Einhundertfünfzig", wiederholte Kim sofort. Die Werte des Echolots stiegen an, der Meeresboden unter Filibusters Kiel fiel ab. Und da hüpfte auch die H4 im schwarzen Wasser. Uff, sie hatten die Barre hinter sich.

"Einhundertfünfundvierzig." Jonny entspannte sich und lächelte Kim zu. In der Dunkelheit sah er ihre Zähne aufleuchten. Die Wassertiefe erhöhte sich schnell auf fünf, sechs, auf zwölf Meter.

"Voraus liegen eine weiße und eine rote Leuchttonne dicht beieinander. Die weiße ist die Buhnentonne. Die müssen wir gut frei an Backbord lassen. Siehst du sie?"

Kim nickte. Durch den Lichtkegel des Handscheinwerfers wanderten die Tonnen H8 und H5.

"So jetzt laß mich mal ans Ruder und mach die Logge klar."

"Was?"

"Ja, ich möchte wissen wie schnell der Strom hier tatsächlich läuft."

Beinahe wütend über so viel Kaltblütigkeit machte Kim sich an der Logge zu schaffen, denn da ihr die unsichtbare Umgebung nicht so gegenwärtig war wie Jonny nach langem Kartenstudium, konnte sie nicht ahnen, daß ihnen hier keine Gefahr mehr drohte.

Querab von der Buhnentonne wendete Jonny und spielte am Gashebel, bis Filibuster im Strom über Grund stillag. "Jetzt!"

"Donnerwetter", staunte Kim etwas später, "über vier Knoten!"

"Ich hatte noch mehr erwartet." Jonny zuckte die Achseln.

"Was wollen wir jetzt machen?" wollte Kim wissen. "Ich kann nicht mehr viel länger auf den Kompaß starren, sonst schlafe ich ein."

"Es hat nicht viel Sinn nach Wangerooge reinzugehen. Das ist nochmal ein ganzes Stück und nicht viel leichter, als das, was wir eben hinter uns gebracht haben. Die Duschen und Klos sind jetzt wahrscheinlich auch zu. Wie spät ist es?"

"Gleich halb eins."

"Wir sollten weiter fahren und uns das Harlesieler Wattfahrwasser suchen. Dort läuft der Strom nicht so stark, und die Pricken können wir leicht mit der Taschenlampe erkennen. Am Wattenhoch warten wir aufs Hochwasser und schlafen ein bißchen. Wir stellen uns den Wecker und gehen morgen um sechs über den Wattweg. Dann sind wir Mittags in Spiekeroog und ruhen uns aus."

Sie seufzte. "Na, denn."

"Leg dich ruhig hin, ich schaff‘ den Rest jetzt auch so."

"Nee, du bist genauso müde wie ich. Das wäre nicht fair."

So blieb sie an Deck und lehnte sich gegen das Kajütsschott. Jonny wendete wieder, lehnte sich auf die Pinne und steuerte vorgebeugt an den befeuerten Backbordtonnen entlang. Jede, die er passierte, hakte er auf der Karte neben sich ab. Er fand die grüne Tonne H9 auf Anhieb und kurz darauf den mehrfachen Besen, der den Eingang ins Watt markierte. Meistens richtete er sich nach dem Echolot, denn die Ufer des Priels fielen steil auf große Tiefe ab, so daß Jonny sehr schnell merkte, wenn er aus dem Fahrwasser zu geraten drohte. Nach drei Meilen ging es nicht weiter.

Jonny warf den gekatteten Anker, überprüfte, ob an Deck alles gesichert war und betrachtete Kim, die auf der Ducht fest schlief. Hier draußen durfte er sie nicht liegen lassen, also mußte er sie wecken. Doch sie wirkte so unwirklich, schön und unnahbar, wie sie da lag. Fast fürchtete er, sie könne zerbrechen oder zu Staub zerfallen, wenn er sie mit seinen groben Händen berührte.

Um Zeit zu gewinnen, verstaute er zunächst einmal Karte, Peilkompaß und Taschenlampe, schaltete die Positionslichter aus und die Ankerlaterne an und zog schließlich sein Tagebuch aus dem Regal. Hm. Wenn er schreiben wollte, brauchte er auch die Taschenlampe wieder. Er setzte sich ins Cockpit, Kim gegenüber.

Was wir heute getan haben, darf ich keinem erzählen. Es reicht, wenn ich selbst mich für komplett verrückt erklären muß. Und jetzt liegen wir hier. Windstille. Über mir eine Million winziger Diamanten wie Löcher in dichtem, schwarzen Samt. Um mich herum läuft leise glucksend das Wasser auf, füllt heimlich und unsichtbar die Priele, ewig. ohne sich jemals um Fragen nach dem Warum zu kümmern. Auf und ab laufen die Tiden, durch- und vermessen die Zeit, zeichnen Lebenskurven nach. Oder vor? Alle paar Sekunden sackt mir der Kopf runter, aber ich darf nicht schlafen, denn neben mir liegt eine Elfe. Oder eine Nixe? Ich weiß nicht, ob sie mit einer Sternschnuppe in mein Boot gestürzt ist, oder sich erschöpft aus dem Wasser an Bord gezogen hat. Ich weiß nicht, warum sie hier ist. Um mit mir nach Cornwall zu segeln? Das kann doch nicht der ganze Grund sein.

Er lehnte sich zurück und merkte plötzlich, daß Kim ihn beobachtete. "Was schreibst du da?"

"Logbuch", antwortete er nicht ganz wahrheitsgemäß.

"Wo sind wir?"

"Vor Anker am Wattenhoch."

"Dann kann ich ja ins Bett. Ich sag´ dir Bescheid, wenn du runter kommen kannst."

Er nickte, und die Nixe verschwand im Luk.

 

14.

Am nächsten Morgen regte sich nicht das geringste Lüftchen. Die Flaggen über der Insel hingen schlaff herab, und in den Bäumen raschelte kein Blatt. Dicht über dem Wasser schwebte der Morgennebel und versprach einen heißen Tag. Kim meinte, Spiekeroog nun zu kennen und sah keinen Grund, dort einen weiteren Tag zu verbringen. Jonny warf einen Blick auf den Kalender und befand, daß er seinem Ziel in Cornwall noch nicht sehr nahe gekommen sei. Also beschlossen sie, wieder den Außenborder zu bemühen und trotz der Flaute weiterzufahren.

Sie frühstückten ausgiebig, denn zum keine fünf Meilen entfernten Wattenhoch Langeooger Plate brauchten sie auf keinen Fall vor zehn Uhr auszulaufen.

Bei Tonne LW8 liefen sie in die Hullbalje ein. Der Auspuffqualm des Außenborders waberte ihnen um die Nasen und wollte sich nicht verziehen. Jonny beobachtete das Echolot. Der Grund des Priels hob sich auf weniger als einen Meter und schob sich noch weiter auf. "Wir werden zu früh am Wattenhoch sein und warten müssen", bemerkte Jonny und stellte kaum eine Minute später den Motor ab. "Hat kein‘ Sinn mehr, die Kühlwasserpumpe saugt sonst Schlick an."

"Aber wir haben doch noch Wasser unter dem Kiel", wandte Kim ein.

"Noch zwanzig oder dreißig Zentimeter. Segeln geht nicht. Das einzige was bliebe, wäre aussteigen und schieben."

"Au, ja."

"Was?"

"Na, warm genug ist es. Und wir müssen vorankommen. Warum also nicht? Warte, ich ziehe mich um."

Wenig später hechtete sie im Badeanzug (im weißen) über Bord. "Uff, ist doch ziemlich kalt", rief sie. "Komm auch, ich habe keine Lust, dein Gewicht mit zu schieben."

Jonny zuckte die Schultern, streifte Hemd und Hose ab und verholte sich über die Seite.

"Rüber nach Steuerbord mit dir", befahl sie. "Das macht Spaß, man nennt es wohl außenbords segeln."

"Schlickrutschen trifft‘s eher."

"Schlickstapfen."

Sie schoben an einem Kielschwertboot vorbei, das aufsaß und auf Wasser wartete, und winkten der erstaunten Besatzung im Cockpit fröhlich zu. Zweihundert Meter weiter liefen sie ebenfalls auf Grund.

"Ich nehme an, das ist die höchste Stelle", meinte Jonny. "Jetzt müssen wir doch warten."

"Aber wir werden Spaß dabei haben", erwiderte sie, schöpfte eine große Handvoll Schlick, holte aus und traf ihn voll vor die Brust.

"Ha!" schrie er und bückte sich. "Du suchst das Gefecht mit dem gefürchteten Filibuster? Kannst du haben."

Lachend und kreischend jagten sie sich ums Boot herum. Eine Ladung Schlick von Jonny traf das Steuerbordpositionslicht und kleisterte es zu. Die Schwierigkeit lag darin, daß jede Handvoll Schlamm, die sie warfen, sich sofort in der Luft verteilte, so daß bald das ganze Deck voller Spritzer klebte, aber weder Kim noch Jonny richtig getroffen wurden.

Doch da wagte sich Kim zu weit um Filibuster herum, um endlich einen sicheren Treffer zu landen, und mit seinem nächsten Wurf gelang es Jonny, sie vom Boot abzudrängen. Sie flüchtete hell lachend, und Jonny pflügte mit rauschender Bugwelle hinter ihr her - bis sie plötzlich stehen blieb, und Jonny sie beinahe nieder gerannt hätte. Unversehens hatte er sie gefangen. Seine zum Wurf erhobene Hand sackte herab. Kim sah zu ihm hoch.

Bisher war sie ihm immer größer erschienen, jetzt stellte er überrascht fest, daß er selbst eine Handbreit höher gewachsen war. Noch immer sah sie ihn an, kleine Fragezeichen in den Augen. Eine Schlammspur zog sich über ihre Stirn. Er wußte es nicht und trat einen Schritt zurück.

"Das Boot!" rief Kim erschrocken. Filibuster trieb ab. Die Flut hatte ihren höchsten Stand erreicht und überschritten, und die einsetzende Ebbe erfaßte den kleinen Kutter schon. Das brach den Bann. Ausgelassen rannten sie hinterher.

"Ich sehe aus wie ein Besen", stellte sie nach einem Blick in ihren Taschenspiegel mißmutig fest. "Die Dusche auf Spiekeroog hätte ich mir sparen können."

"Wie eine Backbordpricke", lachte er. "Aber das macht nichts. Für mich und Filibuster bist du allemal schön genug."

Sie verstummte und blieb still. Jonny fragte sich, was er diesmal Falsches gesagt hatte.

Nach einer Weile wandte sie sich ihm aber wieder zu.

"Soweit zum Kapitel ‚Schlick auf‘ oder ‚Watt ´ne Tour‘. Sag mal, wie hast du das eigentlich gemacht gestern - nein, vorgestern Nacht, als wir durchs Seegatt gegangen sind?"

"Was?"

"Na, den Weg so genau zu finden."

Er überlegte. "Hol‘ mal Karte und Kompaß hoch, dann zeig‘ ich‘s dir."

Sie breitete die Seekarte und den Peilkompaß auf der Cockpitbank aus.

"Siehst du hier? Das war die Tonne, mit der wir beinahe kollidiert wären, und das ist die, die ich eigentlich ansteuern wollte. Ich habe zwar ständig Kreuzpeilungen genommen, konnte aber trotzdem nicht schnell und genau genug feststellen, wie stark und wohin uns der Strom versetzte."

"Kreuzpeilung, habe ich schon von gehört."

"Die ist denkbar einfach." Er zeigte ihr, wie sie Objekte an Land anpeilen mußte, um durch den Schnittpunkt der verschiedenen Standlinien die jeweilige Position zu konstruieren. Daraufhin begann Kim, alle an Land sichtbaren Objekte anzupeilen. Weil es davon nicht sehr viele gab, ging sie zu Gegenständen an Bord über: Das Vorstag, den Mast...

"Du blinzelst wie eine Eule", teilte Jonny ihr mit.

"Interessiert es dich zu wissen, daß deine Nase genau 361 Grad peilt?"

"Ja, und an deiner klebt noch das halbe Watt.... Wat, wie? Wat has‘ du mit den Kompaß gemacht!?"

Sie lachte. "Ich wollte doch mal wissen, ob du das merkst."

"Ich denke heute abend oder heute Nacht kriegen wir Wind", verkündete Jonny ein paar Pricken weiter.

"Wie kommst du darauf?" Der Himmel glänzte noch immer strahlend blau. Nicht die geringste Brise kräuselte das graubraune Wasser, und die Sonne brannte so kräftig, daß Kim es für unnötig befunden hatte, den Badeanzug wieder auszuziehen.

Jonny grinste. "Habe ich so im Gefühl. Die Luft ist so klar, und die Flauten halten sich in dieser Gegend nicht lange."

"Naja", machte Kim wenig überzeugt.

"Angenommen wir kriegen tatsächlich Wind. Hättest du was dagegen, die Nacht durchzusegeln?"

Sie verzog den Mund. "Dat glöw man. Muß das sein?"

"Besser wäre es. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Und die Baltrumer Steinplate sieht gerade im Abendlicht besonders schön aus."

"Stimmt ja gar nicht", erwiderte sie aufs Geratewohl.

Er grinste. "Naja, aber mindestens genauso schön wie die anderen Wattfahrwasser. Dann kommen wir nämlich morgen über Tag noch an Norderney vorbei."

"Aber dort machen wir fest?"

"Oh, Norderney ist ziemlich häßlich und teuer. Wollen wir nicht lieber ankern? Wir müssen den Tag drauf sowieso nach Norddeich zum Einkaufen und Sprit bunkern."

"Wir gehen nach Norderney", bestimmte Kim fest. Jonny seufzte resigniert, übergab das Ruder, zog sich nach unten zurück und beugte sich über die Karte.

Am frühen Nachmittag passierten sie die Langerooger Hafeneinfahrt. Zwei Meilen weiter legten sie sich am Rand des Dornumer Nackens vor Anker und warteten auf die Flut. Herrlich still lagerte sich die rauhe Landschaft um sie herum, als das Meckern des Jockels endlich verstummte. Jonny schmierte Brote für die Nacht.

"Hast du was dagegen, wenn ich versuche zu schlafen?" fragte Kim. "Dann bin ich heute Abend vielleicht etwas besser zu gebrauchen."

"Ja, mach das." Er verpackte die Brote und begann, das Logbuch auf den neuesten Stand zu bringen. Das gesamte Abenteuer am Wangerooger Seegatt mußte noch nachgetragen werden. Am liebsten hätte er diese Geschichte ganz vergessen, aber das ging schließlich nicht an. Das Logbuch war ein Dokument, er durfte es nicht fälschen oder Wichtiges unterschlagen. Nicht zum letzten Mal dachte mit dem Gefühl eines Jungen, der seinen Eltern die Nachricht von einer Fünf in Mathe zu überbringen hat, an seinen Großvater.

Filibuster schwoite herum und legte sich in den Flutstrom. Ein paar weiche Schäfchenwolken erschienen aus dem Nichts und lösten sich wieder auf. Der schwarze Wimpel an der Saling regte sich und schlug probeweise mit dem Schwanz. Beim nächsten Versuch streckte er sich schon etwas weniger zaghaft. Jonny beobachtete durch das Bulleye, wie sich die schmutzig glasige Wasseroberfläche ein bißchen aufrauhte und nickte zufrieden. "Na, also."

Um acht steckte er die Nase aus dem Luk. Nordost Stärke drei, auffrischend. Nordost. Hm. Etwas Gutes konnte das auf die Dauer nicht bedeuten. Merklich abgekühlt hatte es sich auch. Doch fürs erste kam ihnen Nordost durchaus zupaß. Jonny zog sich seinen Troyer unters Takelhemd.

Kim schlief tatsächlich fest. - Sollte sie weiter schlafen. Der Strom hielt Filibusters Bug im Wind, da benötigte er sie zum Segelsetzen nicht. Er zog das Groß hoch, hievte den Anker an Bord, schiftete den Baum und setzte sich an die Pinne. Die Vorsegel ließ er angesichts der nahenden Nacht lieber unten, wenigstens solange er allein auf Wache war. Raumschots brauchte er sie nicht, um Luvgierigkeit auszugleichen, und dieser Nordost konnte leicht für unangenehme Böen gut sein.

Wie eine fette, gleißende Glucke ließ sich die Sonne auf Baltrums Westspitze nieder.

"Wir haben ja tatsächlich Wind!" sagte jemand erstaunt vom Niedergang her.

"Gut geschlafen?"

"Ja, aber weck mich das nächste Mal gefälligst. Ich bin kein dummer Passagier, sondern vollständiges Besatzungsmitglied und will auch so behandelt werden, klar?"

"Okee."

Für zwei Stunden wechselten sie keine weiteren Worte. Die Stecknadelköpfe der ersten Sterne bohrten sich durch den dunkler werdenden Himmel. Hinter ihnen erklomm mager die schmale Sichel des Mondes die ersten Stufen ihrer Bahn.

"Sieh mal." Kim deutete nach achtern. "Er sieht aus wie eine Käserinde. Komisch, der Mond ist mir die letzten Nächte gar nicht aufgefallen."

"Er war auch nicht da." nickte Jonny. Als wir durchs Seegatt rein gekommen sind, hatten wir Neumond. Jetzt nimmt er wieder zu und die Springenden beginnen. Wird uns bei Nachtfahrten helfen."

"Ist sein Licht hell genug, die Pricken bei Nacht zu erkennen?"

"Na, besser jedenfalls."

Voraus, in der Ferne geisterte ein Blaulicht durch die Nacht.

"An Land ist es nicht", bemerkte Kim. "Also muß es ein Polizeiboot sein. Was die hier im Watt wohl suchen?"

"Keine Ahnung." Jonny zuckte die Achseln. "Ich habe hier schon Patrouillenboote gesehen, halbe Schlauchboote. Ziemlich groß und sehr flach. Wahrscheinlich sowohl Rettungsboote, als auch Umwelt- und Verkehrspolizei. Sie kommen hier entlang."

Eine Weile beobachteten sie schweigend das aufkommende Licht. Es würde sie tatsächlich ganz dicht passieren. Jonny ging im Geiste sein Gewissen durch. Doch fand er keine Verfehlungen verzeichnet, Boot und Papiere befanden sich in absolut vorschriftsmäßigem Zustand.

Kurz bevor es ganz heran war, wendete das Polizeiboot, stoppte und wartete auf Filibuster. Jonny wurde seinem manchmal zu Streichen aufgelegten Gewissen gegenüber plötzlich sehr mißtrauisch. Ein Lautsprecher klickte. Blechern knarrte es herüber: "Guten Abend, Ihr Steuerbordpositionslicht brennt nicht. Bitte versuchen Sie, es sofort zu reparieren, sonst muß ich Sie ersuchen, bis zum Hellwerden zu ankern."

"Verdammt!" fluchte Jonny. "Was ist mit der Funzel los? Gestern ging sie doch noch. Sieh mal nach."

Kim kletterte nach vorn, beugte sich über das Licht und - lachte hell auf. "Es ist dick mit Schlamm verkrustet! Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht!"

Jonny erinnerte sich nun dunkel, daß er statt Kim einmal das Licht getroffen hatte. Er winkte den Ordnungshütern zu. "Danke für den Hinweis!"

Das Polizeiboot hupte kurz Gute Nacht und dampfte davon.

"Soll ich dich mal am Ruder ablösen?" fragte Kim und schnippte einen Brocken getrockneten Schlicks über Bord.

Jonny überlegte und merkte dabei, wie müde er war. Abwechselnd aufs Echolot zu starren und nach Pricken Ausschau zu halten, strengte seine Augen an. Früher oder später mußte er Kim das Ruder ohnehin auch bei Nacht anvertrauen. "Also gut. Warte ich hol‘ dir die Lampe. Paß genau aufs Echolot auf. Das Wasser läuft schon wieder ab. Wenn du uns auf Grund schickst, sitzen wir fast zwölf Stunden fest."

Er lehnte sich gegen das Kajütschott und streckte die Beine auf der Ducht aus. Eine Weile noch beobachtete er Kim am Ruder, doch sie schien sich ihrer Sache sicher zu sein. Er schloß die Augen, aber richtig schlafen konnte er nicht, die Rastlosigkeit der Kapitäne ließ nicht von ihm ab. Ab und zu traf auch der Strahl der Lampe, mit der Kim nach Pricken suchte, sein Gesicht. Trotzdem umfing ihn ein tiefer Friede, in dem Cornwall und der Zeitplan ihre Bedeutung verloren. Was machte es schon, wenn sie zwölf Stunden festsaßen, sie waren auf dem Wasser, nur das zählte.

"Jonny, schläfst du?" flüsterte Kim.

Er öffnete die Augen. "Hm?"

"Hast du schon mal einen solchen Sternhimmel gesehen? Dort hinten ist der große Wagen, aber er ist umgekippt. Da an Steuerbord Norden ist, muß das dort ja wohl der Polarstern sein."

Jonny setzte sich auf und sah sich um. Tatsächlich, man konnte sie alle sehen, sogar die Milchstraße. "Verlängere mal den Bogen der Deichsel des Großen Wagens - siehst du den hellen Stern?"

"Nein, wo?"

"Gib mir mal die Pinne -" Er schob sie zur Seite und setzte sich um. Sie rückte dicht heran und visierte über seine Schulter seinen ausgestreckten Arm entlang. "Ja, jetzt sehe ich ihn."

"Das ist der Arktur im Bootes. weiter links, diese Schüssel, ist die Krone mit der Gemma, und noch weiter links kommt der Herkules, das ist diese kaffeemühlenartige Formation."

Sie nickte, berührte dabei mit dem Kinn seine Schulter und zog sich etwas zurück. "Sie sind so großartig... unbeschreiblich. So nah dran, daß man sie anfassen möchte und doch so unnahbar weit weg, sie lassen einen sich nach irgend etwas sehnen, ohne daß man weiß, was es ist..."

Er nickte lächelnd. "Früher habe ich mir immer gewünscht, ein Vogel zu sein, um zwischen den Sternen hindurch fliegen und sie von hinten sehen zu können. Da wußte ich noch nicht, wie lange ich unterwegs wäre."

"Wie lange wäre das?"

"Na, bis Proxima Zentauri so ungefähr elf Millionen Jahre."

"Elf Millionen... Wahrschau!! Luv an!" rief sie plötzlich.

"Verdammt!" beinahe wäre ihm Filibuster aus der Prickenreihe gelaufen. Schleunigst legte er Ruder.

"Ja, wenn du mich nicht hättest...", lachte sie.

"Dann würde mich auch niemand vom Steuern ablenken."

"Lenke ich dich denn ab?" fragte sie neugierig, fuhr aber, da ihr einfiel, daß sie die Antwort darauf lieber doch nicht hören mochte, schnell fort: "Woher weißt du das alles?"

"Ich habe mal den Versuch gemacht, Astronavigation zu lernen. Weiter als bis zu den Sternbildern bin ich nicht gekommen, Hat nicht viel Sinn, wenn du keinen Sextanten, keine Tabellen und keine praktischen Anwendungsmöglichkeiten hast. Trotzdem haben die Sterne einiges an Romantik dabei verloren. Naja. Nimmst du das Ruder?"

Er ließ sich wieder auf der Backskiste nieder und schloß die Augen.

Kim stützte sich auf die Pinne. Kühl war ihr. Ihre eine Hand hielt die Lampe. Die andere fand, als sie sie in ihre warme Hosentasche schob, den kleinen, hölzernen Seehund. Sie lächelte in die Dunkelheit. Schön glatt fühlte er sich an, stromlinienförmig, wie gemacht für ein Leben zwischen Ebbe und Flut. Sie tauchte ein in den dunklen Priel. Schlammig und salzig strömte das Wasser ihren Körper entlang, ohne Widerstand zu finden. Mit kurzen Schwanzschlägen schnellte sie durch die klamme Finsternis. Sie brauchte nichts zu sehen, schon gar keine Karte, um sich ihren Weg durch die Priele zu suchen. Da war eine Bank, prustend tauchte sie auf, robbte hinauf und sah sich um. Über ihr kreisten kreischend die dunklen Schatten der Seemöwen. Sie breitete die Schwingen aus, flog auf und gesellte sich zu ihnen. "Flieäg! Flieäg!" riefen sie, und Kim flog höher und höher. Im Mondlicht unter ihr glitzerten die Priele. Düster hoben sich die Inseln ab. "Flieg! Flieg!" Der Horizont rundete sich, hinter der Erdkugel ging die Sonne auf und wurde kleiner. Voraus kam Proxima Zentauri in Sicht, strahlend und rot...

Nein, nein, das war kein Stern sondern eine rote Spierentonne voraus im Scheinwerferlicht.

"Jonny! Da vorn ist eine Tonne", raunte sie.

"Was schon?" murmelte Jonny schläfrig. "Dann macht das Fahrwasser gleich einen Knick nach Backbord. Noch eine gute Meile, dann können wir ankern und schlafen. Wie spät ist es?"

"Gleich zwei."

An der Baltrumer Balje zwang Jonny sich auf die Beine, nahm das Segel runter und warf das Eisen raus. Die Tonne, die den Priel markierte, in den sie bei auflaufendem Wasser hineinfahren mußten, blinkte grün herüber. Hier lagen sie für die nächsten sieben Stunden sicher und verholten sich in die Koje.