Die folgende Leseprobe ist ein Auszug aus meinem Roman "Stillwasser" Alle Rechte daran, wie auch am ganzen Roman liegen bei mir. Ausdruck und Vervielfältigung ist ohne meine ausdrückliche Genehmigung nur für private Zwecke gestattet.

Wenn Ihnen die Probe gefällt, und Sie weiterlesen möchten, nehmen Sie doch einfach Kontakt mit mir auf:

Patrik Grönzin, Ansbacher Straße 27, D-28215 Bremen, JPGroenzin@aol.com

22.

Gegen zwei Uhr nachts, bei laufender Ebbe erreichte Filibuster die Ansteuerungstonne Schulpengat. Die offene Nordsee lag vor ihr, herausfordernd und gleichgültig.

Was geht es die See an, ob ein paar Kinder so leichtsinnig sind, sich ihren Launen auszusetzen? An ihrer Stimmung ändert das nichts. Sollen sich die Menschen doch für Eroberer halten, sollen sie doch denken, sie hätten das Meer gebändigt. Die See regt sich nicht über Belanglosigkeiten auf. Sie hat Wichtigeres im Kopf. Wieso glauben die Menschen bloß immer, sie seien der Mühe wert, wütend zu werden?

Solche und ähnliche Gedanken gingen Jonny durch den Kopf, als er beim Passieren der Tonne nach Westen sah. Er beschloß, sie für sein Tagebuch festzuhalten.

Doch zuerst setzte er sich noch einmal an die Navigation. Ab der letzten Tonne betrug Filibusters Kurs 228 Grad rechtweisend. Mißweisung vier Grad, machte 232. Über eine Deviationstabelle seines hölzernen Bootes verfügte er nicht, die Kompaßabweichung konnte aber nicht sehr hoch sein, deshalb ließ er sie außer acht. Die Abdrift mochte irgendwo zwischen zehn und fünfzehn Grad liegen, also hatte er Kim befohlen, 245 Grad am Wind zu steuern. Mehr Höhe ließ sich aus Filibusters Gaffelrigg sowieso nicht herausholen.

Ja, er hatte alles richtig gemacht. Eigentlich mußten sie die kleine Markierung auf der Karte, die Dover bezeichnete, einigermaßen genau treffen. Aber auf See geschieht eigentlich meist Uneigentliches...

Alle zwei Stunden wechselten sie einander am Ruder ab und kamen so recht gut durch die Nacht. Beide wachten von allein auf, wenn sie an der Reihe waren und schliefen auch sofort ein, sobald sie abgelöst wurden.

So dämmerte milchig der Morgen und wunderte sich, beide wach und ziemlich ausgeruht vorzufinden, als er die Bühne betrat. Lange, graue Phalanxen kurzer steiler Wellen mit weißen Köpfen rannten ihnen aus Nordwest entgegen. Jonny beobachtete sie mit Unruhe. Er stieg unter Deck und versuchte, eine halbwegs brauchbare Position zu koppeln. Das Ergebnis blieb sehr ungefähr, und Jonnys Unruhe wuchs.

Sein Blick fiel auf das Entermesser, das unschuldig wieder an seinem Platz am Schott hing. In einem plötzlichen Wutanfall riß er es herunter und warf es außer Sicht in eine Backskiste. Durchs Niedergangsluk sah er in den Himmel hoch. Die Wolken hasteten in unbekannte Fernen, was schwer zu erkennen gewesen wäre, wenn nicht vereinzelte blaue Löcher dazwischen ihre Bewegung angezeigt hätten. Er zog den Kopf wieder ein, als ein plötzlicher Schauer dicke Regentropfen in sein Gesicht schüttete. Novemberwetter, knurrte Jonny, wir wollen im November über den Kanal!

Er stülpte sich den Südwester über und kletterte wieder ins Cockpit. Kim lachte über sein finsteres Gesicht. Seltsamerweise brachte ihm das seinen Mut zurück. Er jedenfalls fand das seltsam. Was wollte er denn?

Ein herrlicheres Wetter konnte er sich doch gar nicht wünschen! Der Wind riß an den Krempen ihrer Südwester, biß in ihre Wangen und lehrte ihre Nasen das Laufen. Sie waren in See! Irgendwo da drüben wartete England, verfehlen würden sie es nicht, selbst wenn sie Dover nicht auf Anhieb trafen. Filibuster sauste über die Wellen, zerschnitt sie mit ihrem scharfen Steven und setzte weich ein, während weiße Gischt um ihren Klüverbaum spielte.

Hart wie Tragflächen ragten die nassen Segel über ihnen. Die Achterlieks zitterten vor Spannung, und ihr Vibrieren übertrug sich auf die Schoten in Kims und Jonnys Händen und das ganze Boot.

Weit zurück blieb Den Helder, verblaßte zugunsten des Augenblicks in der Bedeutungslosigkeit. Kim schwieg und freute sich, daß auch Jonny den Mund hielt. Doch beider Schweigen hatte sich unmerklich verändert. Es war kein verschüchtertes, in sich selbst zurückgezogenes mehr. Es fand sich keine Furcht und keine Leere mehr darin. Der dunkle Strom verbreitete keine Schrecken im Moment, denn sie ritten ihn zusammen mit ihrem Boot, das das Geheimnis des Lebens an sie weitergab, ohne daß sie es verstanden oder verstehen wollten.

Doch wie es immer ist und auf See ganz besonders: Alle Großartigkeit und Erhabenheit muß zurückstehen, wenn der leere Magen aufbegehrt, und der scharfe Wind durch die Kleider zu schneiden beginnt. So wandte sich Kims und Jonnys Interesse wieder näheren Dingen zu, und Bewegung kehrte in ihre steif gewordenen Glieder zurück. Kim stieg unter Deck, zog sich Handschuhe an und einen dicken Pullover unter ihr Ölzeug und brachte Brote und Kaffee mit nach oben.

"Schiff an Backbord voraus", bemerkte sie fünf Minuten später kauend und wedelte mit dem Wurstbrot am Leewant vorbei.

Den ganzen Morgen über hatten sie die See für sich allein gehabt. Es war das erste Fahrzeug, daß sie seit dem Schulpengat sichteten, abgesehen von ein paar weit entfernten Positionslichtern in Luv heute Nacht. Nur deswegen machte Jonny sich die Mühe, es einem forschenden Blick durchs Fernglas zu unterziehen. Doch auch im Rund der Optik erkannte er nicht mehr, als einen schwankenden, dunklen, grauen Schemen vor dem nicht ganz so dunklen Grau des Himmels. "Er läuft genau vor unserem Bug vorbei." murmelte er. Wenn das Schiff sie dicht genug passierte, konnte man ja mal die genaue Position erfragen.

Er nahm noch ein Wurstbrot und beobachtete den Frachter weiter. Langsam kam er auf, und allmählich verschob sich seine Silhouette, je mehr er ihnen die Breitseite zuwandte. Seine Umrisse schienen Jonny vertraut, obwohl sich alle modernen Containerschiffe zum Verwechseln ähneln. Und doch: der turmartige Brückenaufbau und der hohe, freistehende Schlot... Plötzlich erinnerte er sich an das Telefongespräch mit seiner Mutter. Er sprang nach unten und langte sich den Handscheinwerfer aus dem Schapp.

"Luv an, so weit es geht", befahl er. Kim zerrte an der Schot, doch der Wind blies mit solcher Kraft ins Segel, daß Jonny, ungehalten über die Ablenkung, selbst mit zupacken mußte. Filibuster legte sich noch weiter nach Lee. Jonny griff wieder nach dem Glas. Inzwischen konnte er den weißen Namenszug am Bug des Frachters zwar ausmachen, aber noch immer nicht lesen. Er schob Kim von der Pinne weg und drückte ihr das Glas in die Hand. "Deine Augen sind besser als meine. Versuch‘, den Namen zu entziffern, oder das Reedereiabzeichen am Schornstein."

Kim stützte die Ellenbogen auf dem Kajütdach ab und spähte angestrengt durchs Okular. "Das Zeichen am Schornstein sind zwei weiße Fische in einem roten Rhombus", meinte sie endlich, "und der Name... Con-... Constanzia, glaube ich."

"Das darf doch nicht wahr sein", Jonny schüttelte ungläubig den Kopf. "Da vorne fährt wirklich mein Vater. Einfach so."

Er richtete den Handscheinwerfer auf die Brücke des Frachters und blinkte das Anrufsignal: Kurz-lang, kurz-lang, kurz-lang, wie er es schon als Achtjähriger mit seinem Vater geübt hatte. Oder wie mit dem Signalspiegel, wenn er in einer schwierigen Klassenarbeit einige Informationen von Jan benötigte. Filibuster an Constanzia, kurz-lang, kurz-lang. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis sie drüben die schwachen Blitze seiner Lampe entdeckten und kurz-lang-kurz bestätigten.

"Filibuster an Constanzia:", morste Jonny, "erbitte Kapitän Ahlers auf die Brücke".

"Hallo, mein Junge", kam die Antwort diesmal prompt, "Schön dich zu sehen. Wo wollt ihr hin?"

"Hallo, Vater", gab Jonny überschwenglich zurück. "Dover, dann Falmouth, habe ein Erbe anzutreten." Eine Weile blieb es still. Jonny merkte, daß die Constanzia Fahrt verminderte, um nicht an ihnen vorbeizulaufen. Jonny befahl Klar zur Wende. Filibuster drehte stürmisch durch den Wind und fiel auf Parallelkurs zur Constanzia ab.

Drüben blinkte der Morsescheinwerfer wieder. "Seid sehr vorsichtig. Kanal kein Spielplatz und auch nicht Wattenmeer."

"Klar sind wir. Weiß ich doch. Gute Reise gehabt?" antwortete Jonny.

"Rauhes Wetter. Paßt bloß auf."

Kim stieß Jonny in die Seite. "Grüß ihn von mir."

Er warf ihr einen zweifelnden Seitenblick zu, aber sie sah ihm so unnachgiebig in die Augen, daß er die Achseln zuckte und morste: "Aye. Schöne Grüße von Kim."

Jonny las die Antwort laut mit. "‘Wer ist Kim?‘ Und was soll ich darauf sagen?" wollte er von ihr wissen.

"Sag‘ ihm, ich sei deine Freundin."

"Bist du denn meine Freundin?"

"Du weißt doch wie Eltern sind. Die denken sowieso immer, daß sie sich alles denken können. Da kannst du es auch gleich sagen."

Jonny gehorchte, doch ihm war nicht wohl dabei. Sein Vater brauchte ein paar Sekunden der Verdauung. "Gleichfalls schöne Grüße unbekannter Weise. Ihr befindet euch auf 52°14´ N, 03°15´ E. Viel Glück."

Jonny wiederholte die Angaben bei sich und speicherte sie sorgfältig in seinem Gedächtnis ab. "Danke. Grüß‘ zu Hause."

Constanzias letztes Signal bestand nur noch aus einem Kurz-lang-kurz-lang-kurz für "alles verstanden". Der Frachter nahm Fahrt auf und zog langsam an Filibuster vorbei. Jonny sprang zum Mast und dippte die Flagge. Aus dem Typhon der Constanzia dröhnte es dreimal lang in väterlichem Baß. Jonny setzte die Flagge wieder durch, und drüben erklang Abschied nehmend noch einmal kurz das Horn.

Kim stellte fest, daß Jonny geistig noch immer nicht richtig anwesend war, selbst nachdem Filibuster schon lange wieder auf Backbordbug und dem alten Kurs lag.

Auf der Brücke seines Schiffes blickte Kapitän Ahlers seinem Sohn in dessen kleinem Boot besorgt nach, bis er sie außer Sicht verlor. Schließlich schüttelte er den Kopf und murmelte: "De Bengel segelt sich noch um Kopf und Kragen. Und ´ne Deern hat he auch bei."

Der Wachoffizier, der daneben stand, glaubte trotzdem einen deutlichen Unterton von Stolz heraus zu hören und grinste. Er verstand seinen Chef gut.

Einen Moment später erschien der Funker auf der Brücke. "Tschulljung, Skipper", wandte er sich an Ahlers. "Kam gerade ´ne Starkwindwarnung rein. Acht Beaufort für den Kanal, die Themsemündung und die Doggerbank heute nacht."

"Danke", nickte Ahlers. Er trat zum Radarschirm, auf dem der winzige, verwischte Blip des hölzernen Bootes gerade noch zu erkennen war, und preßte die Lippen zusammen. Der Wachoffizier blickte ihn mitleidig und besorgt an. "Wir könnten die holländische Küstenwache alarmieren und ihnen einen Rettungskreuzer hinterherjagen", schlug er vor.

Doch Kapitän Ahlers schüttelte entschieden den Kopf. "Nein. Ich kenne Jonny. Der schafft das." Seine Kiefermuskeln arbeiteten heftig, woran der Wachoffizier ablesen konnte, wie schwer ihm dieser Entschluß fiel.

23.

Jonny stellte anhand der ihm von der Constanzia übermittelten Position fest, daß sie weiter nördlich standen, als sie eigentlich sollten. Er wies Kim an, etwas voller zu halten und nur noch 240 zu steuern. Doch Kim hatte die rechte Lust verloren und teilte ihm sehr bestimmt mit, er könne sein Boot auch mal selber steuern, sie wolle sich eine Weile aufs Ohr legen.

Von dem aufziehenden Sturm bemerkte Jonny die ersten Anzeichen drei Stunden später, gegen drei Uhr nachmittags. Der steife Wind frischte noch weiter auf und schien auch etwas nördlicher zu drehen. Im Nordwesten brach die Wolkendecke auf und legte ein großes Stück blauen Himmels frei. Trotzdem blieb es kalt. Dahinter türmte sich eine riesige, hohe, schwarze Wolkenbank mit ungesund purpurgrau schimmernder Unterseite, von der schwefelgelbe Zotteln herabhingen.

Jonny biß sich auf die Lippen. Besser, wenigstens noch ein Reff einzustecken. Er beugte sich vor und rief sanft nach Kim. Sie war sofort wach. "Was ist los?"

"Wir müssen Segel kürzen." Er zeigte ihr die mächtige Wolkenwand voraus.

"Das sieht nicht gut aus", meinte sie.

"Überhaupt nicht", antwortete er mit so gezwungen klingender Zuversicht, daß sie ihn neugierig anstarrte, und seine Besorgnis sich ihr so unverhüllt mitteilte, als sei es ihre eigene. Das machte ihn ihr irgendwie ähnlicher. Sie lächelte in sich hinein.

"Gehst du nach vorn?" fragte er.

Sie nickte und kletterte zum Mast.

Jonny luvte an, bis das Vorliek des Großsegels zu killen begann. "Am besten, du steckst die beiden restlichen Reffs gleich zusammen ein", rief er.

Sie nickte wieder. Das Manöver ging ihr inzwischen flüssig aus der Hand, und sie brauchte sich nicht mehr so darauf zu konzentrieren, auf den Beinen zu bleiben. Trotzdem reichten ihre Körperkräfte nicht aus, die Gaffel zum Schluß wieder ganz durchzusetzen. Jonny luvte noch einen winzigen Tick. Filibuster begann haltlos zu stampfen und zu rollen.

"Noch einen Pull!" schrie er. "Gut so, belege!"

Filibusters Großsegelfläche war nun auf die Hälfte reduziert.

Kim hangelte sich ins Cockpit zurück, ließ sich auf die Ducht fallen und prustete: "Uff, das bringt den Kreislauf in Gang!"

Jonny fiel ab und ging auf den alten Kurs. Filibuster benahm sich unter seinen Händen jetzt etwas unwillig und gierte deutlich nach Lee, aber das würde sich in ein paar Minuten ändern, sobald diese äußerst windträchtige Wolkenbank über sie herfiel und das Boot aufs Ohr drückte.

Noch schien die Sonne in trügerischer Freundlichkeit auf sie herab, da pfiffen schon die einleitenden Böen heran. Trotz der kabbeligen See deutlich sichtbar fegten sie übers Wasser. Filibuster legte sich erschrocken auf die Seite, als sie vom ersten heftigen Windstoß getroffen wurde. Wie die zurückweichende, abwehrende Geste eines angegriffenen Tieres, dessen Furcht unvermittelt auf mich übergeht, dachte Kim und krallte ihre Fingernägel ins Schanzkleid.

Das Boot brach aus und lief Jonny aus dem Ruder, denn der seine Erwartung weit übersteigende Ruderdruck nach Luv hatte ihm beinahe die Pinne aus der Hand gerissen. Er stützte hastig und biß die Zähne zusammen. Die Böe summte um die Backstagen und verschwand nach Lee, doch die nächste marschierte schon an.

"Du mußt noch mal nach vorn", schrie Jonny in die plötzliche Ruhe hinein - und fuhr mit passenderem Stimmaufwand fort: "Nimm die Fock weg und setz den Klüver, hoffentlich hält der Klüverbaum!"

Kims plötzliche Furcht beschränkte ihr ganzes Wesen auf Wachsamkeit und Konzentration. Es galt, eine Krise zu bewältigen und alles Weitere vorerst zurückzustellen. Kim erklärte sich innerlich dazu bereit. Sie tippte mit dem Finger zur Bestätigung an einen nicht vorhandenen Mützenschirm, ausnahmsweise ohne damit heimlichen Spott oder unausgesprochenes Aufbegehren gegen Jonnys Befehl auszudrücken. Im Augenblick war sie nur froh, daß Jonny das Kommando führte und die Verantwortung trug.

Auf dem schmalen Vordeck verkeilte sie sich mit den Knien zwischen den Fußrelings und kämpfte die wahnsinnig gewordene Fock nieder. Der Klüver stieg von allein nach oben, während sie die Stagreiter einen nach dem anderen anschlug.

Sie registrierte nur halb, wie stockfinster es auf einmal geworden war. Jonny, der das Wetter vom Ruder aus mißtrauisch beobachtete, bemerkte es dafür, einschließlich der Regentropfen, die ihm wie Pistolenkugeln ins Gesicht knallten, um so deutlicher. Das Bändsel seines Südwesters, an dem der Sturm zerrte, schnitt ihm in die Kehle, und er fluchte schwitzend vor sich hin. Wie sollte das weitergehen, wenn sich der Seegang erst dem Wetter entsprechend aufbaute?

Auf sieben Beaufort schätzte Jonny den Sturm jetzt ohne weiteres. Und er drehte weiter nach Nord. Solange er drehte, würde er auch auffrischen. Jonny hatte von Winden, die von Nordwest auf Nordost umsprangen nur Übles gehört. Noch schlimmer: Bei Nordoststurm und von achtern anrollenden Seen konnten sie ihren Kurs nicht mehr halten. Es sei denn, sie liefen vor Topp und Takel ab. Doch wenn ihnen dann eine See übers Heck einstieg...

Sobald Kim sich erschöpft wieder ins Cockpit fallen ließ, übergab er ihr die Pinne mit der Anweisung, den Kompaß Kompaß sein zu lassen, statt dessen lieber Wind und See im Auge zu behalten, und stürzte nach unten in die Navigation.

Filibusters Verbände knackten und knarrten um ihn herum, als stöhne das ganze Boot von Orcas angegriffen verängstigt auf. Die Seen donnerten von unten gegen ihren Rumpf und begehrten im Namen des Sturms Einlaß. Ach, was, rief er sich gewaltsam zur Ordnung, nur seine bis an den Rand der Panik erhitzte Phantasie belebte den Lärm. Filibuster war für solches Wetter gebaut, sie würde standhalten.

Jonny riß die Wetterkarten der letzten Tage aus dem Schapp. Als erstes sprang ihm das Sturmtief über Schottland ins Auge. Es befand sich nun nicht mehr über Schottland, dachte er bitter. Hätte er wissen müssen, daß es sie hier im Kanal überfallen konnte? Nun, wissen nicht, befand er. Aber die Möglichkeit oder gar Wahrscheinlichkeit lag klar auf der Hand. Allein daraufhin hätte er nicht auslaufen dürfen. Sein eigener, unvernünftiger Wunsch, Holland zu entkommen, hatte ihn zu der unaussprechlichen Leichtsinnigkeit getrieben, seine oberste Pflicht als Skipper, die Sorge um die Sicherheit des Schiffes und seiner Besatzung, zu verletzen und, statt seinen eigenen Verstand zu Rate zu ziehen, nur den so willkommenen Vorhersagen des Wetterberichts Glauben zu schenken, von denen er genau wußte, als wie unzuverlässig sie sich häufig erwiesen. Aus purer Selbstsucht und Schwäche hatte er Kim in ernst zu nehmende Gefahr gebracht.

Noch einmal besah er sich das Tief. Bei so niedrigen Luftdruckwerten konnte es leicht acht Windstärken auf sie hetzen. Eiskalte, bittere Wut gegen sich selbst und tiefe Scham erhitzten ihn, bis nach ein paar Sekunden sein Wirklichkeitssinn und wilde Entschlossenheit die Oberhand über seinen Verstand gewannen. Er hatte sie in die Klemme gebracht, er mußte sie auch wieder heraus manövrieren. Und - zum Teufel - er würde Kim heil nach England bringen, sollte es ihn selbst auch das Leben kosten!

Die Welt war aus den Fugen geraten, aber noch schwamm Filibuster, noch konnte er verhindern, daß beide untergingen - sofern er aufhörte, sein Geschick zu bejammern, und endlich etwas unternahm.

Die Petroleumlampe über dem Schwertkasten schwang heftig hin und her. Der Seegang begann, sich rapide aufzubauen.

Jonny fegte die Wetterberichte vom Tisch, kämpfte sich ins Cockpit und beugte sich über die Karte. Sie mußten jetzt ungefähr zwanzig Meilen südwestlich ihrer Position beim Treffen mit der Constanzia stehen.

Das Seegebiet verengte sich hier langsam zu einem Trichter, dessen Hals die Straße von Dover bildete. Sämtliche Küsten, die niederländische, die belgische oder die englische, lagen ungefähr gleich weit entfernt. Welche auch immer er ansteuerte - der Sturm würde seine volle Stärke entfaltet haben, bevor sie eine von ihnen erreichten. Jonny fürchtete sich vor einer Sturmnacht auf See weniger, als vor einer Leeküste, von der er sich bei solchem Wetter, Dunkelheit und unter Sturmbesegelung freikreuzen mußte. Einen Hafen zielsicher zu treffen, hielt er unter diesen Bedingungen für unmöglich.

Das Sumlog zeigte sieben Komma zwei Knoten, und Jonny beglückwünschte sich, es vor dem Auslaufen wieder in Dienst gestellt zu haben, denn bei dieser Welle funktionierte seine Handlogge nicht. Was also sollte er tun? Solange der Wind noch von westlicher als Nord wehte, lauerte der Kontinent in Lee. Drehte der Sturm weiter, mußte er, schon um Filibuster nicht den achterlichen Seen auszuliefern, Kurs ändern. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als zunächst weiter zu laufen, und später entsprechend der Wetteränderung und ihrer Position, wo immer sie dann stehen mochten, zu entscheiden, welcher Kurs ihm von da ab am ungefährlichsten deuchte. Punkt. So, wie ging‘s weiter. Höchste Zeit, das Boot sturmsicher zu machen.

Der Schweiß lief ihm in dicken Tropfen vom Gesicht, während er die Dosen mit Proviant in die Plicht warf und die Thermoskannen mit heißen Getränken hinterher reichte. Fernglas, Handscheinwerfer, Seenotmittel und Karte in Plastikumschlag lagen seit Den Helder schon wohlverstaut unter der Ducht bereit. Abgehakt. Was noch? Positionslichter einschalten, Bulleyes nochmal überprüfen.

Die ganze Zeit über verfolgte ihn die nagende Sorge, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, ob es nicht doch sicherer war, Land anzulaufen. Er ertappte sich bei dem ungewohnten Wunsch, schützende Hafenmauern um sich herum und festen Boden in erreichbarer Nähe zu wissen. Seltsam, daß ausgerechnet er sich an Land sehnte. Nein, diesmal ließ er sich nicht durch seine Wünsche ins Verderben reiten, diesmal wollte er seiner Vernunft gehorchen, und die versicherte ihm, daß sich ihnen unter den gegebenen Umständen hier draußen die größeren Überlebenschancen boten, ganz abgesehen davon, daß sich bis zu egal welcher Küste mindestens vierzig Meilen aufgewühlten Wassers oder acht lange Fahrtstunden streckten.

Sie halfen sich gegenseitig in Schwimmwesten und Lifebelts und pickten sich ins Strecktau ein. Jonny verschalkte sorgfältig und endgültig den Niedergang und setzte sich dann ans Ruder.

Beide hockten sie auf der hohen Kante und schwiegen, diesmal aber, weil jede Unterhaltung ihre Stimmbänder zu sehr in Anspruch genommen hätte. Die Seen kochten an Filibusters Leebord entlang und verwirbelten hinter ihrem Heck zu einem schäumenden, von den nächsten Wellen sofort durcheinander gerührten Hexenkessel, den Jonny Kielwasser nicht mehr recht nennen mochte. Genauso wenig wiesen die grünen Massen, die Filibusters Rumpf vor sich herschob noch große Ähnlichkeit mit einer Bugwelle auf. Entweder reckte sich ihr Steven hoch über den Kamm, oder er setzte klatschend so tief ins Tal ein, daß das weiße Wasser voller Schreck flüchtend zur Seite davon sprang. Flaggen und Wimpel im Mast standen steif wie Bretter, nur ihre zitternden Spitzen verrieten noch, daß sie nicht aus fester Materie gewachsen waren.

Die Wellen liefen jetzt zu Höhen von fast drei Metern auf und sahen von der niedrigen Position im Cockpit im Halbdunkel aus wie massive, geschlossene Stahlwände, die schrecklich und bedrohlich auf Kim und Jonny ein drängten, um sie nieder zu walzen. Doch ihre trampelnden Herden wälzten sich ausdruckslos schweigend unter Filibusters Kiel hindurch, tauchten hinter ihrem Heck wieder auf und rollten davon.

So gewöhnten sich Jonny und Kim an ihre Anwesenheit genauso wie an die von Salz, Nässe und Kälte, und ihre Körper verwuchsen mit den Bewegungen des Bootes, paßten sich seinem Rollen und Stampfen an, bis sie es kaum noch spürten. Sie wurden zu einem Teil des Windes und der See, für die Zeit, Raum und Mensch keine Bedeutung haben. Leider spürten sie bald auch ihre Hände und Füße nicht mehr.

Derartig ungeschoren aber entließ der Sturm sie nicht aus seinen Klauen. Er holte tief Luft, frischte weiter auf und drehte. Es mußte annähernd Sonnenuntergang sein, wie Jonny mit einem Blick auf die Uhr feststellte, und die Zuversicht, die er sich erlaubt hatte, als er merkte, wie sauber Filibuster über die Wellen setzte, schwand angesichts der nahenden Nacht wieder dahin.

Die Brecher wuchsen höher und steiler. Ihr gläsernes Grün, das Jonny immer für so verläßlich und fest gehalten hatte, verdunkelte sich in unberechenbares, verhülltes Schwarz. Jonny versuchte, sich mit aller Gewalt aus seiner gefährlichen Teilnahmslosigkeit zu reißen. Denk nach, verdammt! Er schüttelte heftig den Kopf und das Jaulen und Kreischen im Rigg, das bis dahin nur gedämpft durch sein Ohr an sein Hirn gedrungen war, erreichte ihn plötzlich in seiner vollen Lautstärke.

Filibuster trug noch immer zuviel Segelfläche. Wie konnte er sie noch weiter verkürzen? Ein riesiger Schwall Wasser klatschte ihm ins Gesicht und lief ihm eisig durch den Kragen des Ölzeugs den Rücken hinunter, ohne daß er die Kälte spürte. Siedend heiß pulste seine Kopfhaut.

Das war nicht mehr Rasmus, das war der blanke Hans, der hier tobte. Er sah, daß Kim mit großen, erschreckten Augen gebannt voraus starrte und folgte alarmiert ihrem Blick. Eine riesige Grundsee, höher als alle bisherigen, kam dort mit brechender Krone auf sie zu gewalzt, Filibuster kletterte hinauf, reckte den Bugspriet immer höher gegen den dunklen Himmel, und auf einmal spürte Jonny keinen Druck mehr auf der Pinne: Das Ruderblatt hing in der Luft. Filibuster wälzte sich schwerfällig über den Kamm, kippte zur anderen Seite weg und sauste mit knallenden Segeln zu Tal. Jonny korrigierte schleunigst ihren Kurs und atmete aus. Nur unverschämtes Glück hatte sie soeben vor dem Querschlagen und einem schnellen Ende bewahrt. Der Schwung ihrer Talfahrt trieb Filibuster fast den ganzen Weg die nächste, nicht ganz so hohe Welle hinauf. Sie sprang hinüber und setzte krachend ein.

Was sie hier erlebten, hatte Jonny bisher nur in Reiseberichten von Einhandseglern gelesen. Dunkel erinnerte er sich an den Rat dieser gestandenen Salzbuckel: Man mußte die Welle im Winkel von fünfundvierzig Grad anlaufen, im letzten Augenblick vor Erreichen den Kamms leicht Ruder legen und ihn im Moment, da das Ruder aus dem Wasser ragte, senkrecht durchschneiden.

Jonny probierte es aus. Filibuster dankte es ihm und geriet ihm diesmal nicht außer Kontrolle. Doch jeder dieser Brecher rollte anders an, jeden mußte er genau beobachten, für jeden brauchte er sein ganzes Fingerspitzengefühl, um ihn richtig zu nehmen. Und noch andere Probleme wollten gelöst werden. Die Fetzen mußten endlich runter. Am besten das Groß ganz weg, und den Klüver am Fockstag setzen. Aber gerade jetzt mochte er Kim das Ruder nicht anvertrauen. Also mußte sie den Segelwechsel vornehmen. Konnte er ihr das zumuten? Er mußte.

Lautlos verhöhnte er sich selbst: Dies ist es nun, wovon du immer geträumt hast! Ein Sturm auf See, herrlich, großartig! "Du verdammter, dreimal verfluchter Dreckssturm", schrie er die Kompaßsäule an, "Du kriegst uns nicht, wenn du mich nicht vorher umbringst!" Doch seine Worte wurden fort geblasen und erreichten die Kompaßsäule nie.

Er packte Kim am Arm, um sie auf sich aufmerksam zu machen und erklärte ihr schreiend, was er von ihr wollte, während er die anstürmenden Seen scharf im Auge behielt. "Nimm erst den Klüver weg, - er hat jetzt einen Niederholer - schlag’ ihn am Fockstag an und setz ihn. Dann gib mir ein Zeichen, daß ich die Großschot fliegen lasse, und reiß das Groß runter, egal wie, Hauptsache weg damit. Verstanden?"

Kim erhob keine Einwände, nickte nur beherrscht, und Jonny fragte sich flüchtig, wer mehr um ihr Leben fürchtete: sie selbst oder er. "Pick dich am Want ein, das hält!"

Kim kroch über das Kajütdach und klammerte sich krank vor Angst mit beiden Händen an den Handläufen fest. Der Sturm schüttelte sie in ihrem steifen Ölzeug hin und her wie eine Kinderrassel. Jedesmal, wenn sie eine Hand losließ, nur um sie zwanzig Zentimeter weiter zu setzen, mußte die sich vorher sammeln und die Reste ihres Mutes zusammenkratzen, obwohl der Lifebelt sie doch halten sollte, falls sie einmal danebengriff.

Die Brecher brüllten sich in grober ungeschlachter Sprache alte, entsetzliche Geschichten zu. Grün und kalt und starr phosphoreszierte die Gischt im Steuerbordpositionslicht. Wenn Filibuster rasend schnell eine Welle hoch jagte, wurde Kim ans Deck gepreßt, wenn das Boot auf der anderen Seite wieder hinuntersauste, glaubte sie abzuheben. Rote Sterne explodierten vor ihren Augen. Irgendwie erreichte sie das Vordeck. Ein Brecher spülte um ihre Beine. Und noch einer. Und noch einer. Und auf einmal übersprang der Aberwitz ihrer Furcht eine magische Grenze; wie das überdrehte Gewinde einer Schraube faßte sie nicht mehr.

Durchnäßt bis auf die Haut war Kim sowieso. Warum sollte sie ängstlich nach der nächsten See Ausschau halten? Vor kommenden Gefahren mußte man sich fürchten, um sie abwenden zu können. Doch jetzt saß sie mittendrin. Furcht lohnte sich nicht mehr.

Seelenruhig hakte sie sich ins Vorstag, warf das Klüverfall los, und zerrte das wie ein junger Stier bockende Segel am Niederholer herunter. Nun noch irgendwie abschlagen. Dazu mußte sie raus auf den Klüverbaum, dessen Vorhandensein sie in der Dunkelheit nur erahnte, weil die Wellen sich an ihm brachen. Während sie kühl überlegte, wie sie vorgehen sollte, ruckte es unter ihrem Kinn, und eine Bö riß ihr den Südwester vom Haar. Er flog in die Nacht davon, ehe sie noch den Kopf wenden konnte.

Eigentlich brauste der Krach des Sturms gar nicht so brutal, sogar ein bißchen musikalisch, fast schön.

Kim schlang den linken Arm um das Vorstag und senkte den Fuß langsam auf den Wasserstagfußbeschlag. Die Seen brandeten ihr ununterbrochen um die Beine, aber so kam sie wenigstens verhältnismäßig bequem an den Klüver heran.

Filibuster reckte die Nase aus dem Wasser. Halsschäkel los. Filibuster tauchte ein und wieder auf. Das Wasser stieg Kim die Hosenbeine hoch, spülte kurz um ihre Hüfte und fiel wieder. Den ersten Stagreiter los. Die nächste See, den nächsten Stagreiter. Und so weiter.

Bis sie den Klüver provisorisch auf dem Vordeck festzurren konnte. Nachdem sie sich unendlich mühsam wieder binnenbords gehievt hatte, fiel ihr vergleichsweise leicht, ihn am Vorstag anzuschlagen. Angenehm warm wurde ihr durch die Anstrengung. Am Mast hielt sie einen Moment inne, bevor sie das Großfall los warf.

Kreischend wie riesige schwarze Katzen mit aufgerissenen Rachen, weißen Schnurrhaaren und verzerrten Gesichtern rannten die Wogen auf sie zu. Kalte Krallen bissen brennend in ihre Wangen. Aber die Untiere galoppierten vorbei und unter ihr weg. Es bestand kein Grund, sich vor ihnen zu fürchten. Schwarze Katzen sind doch schön! Kim lachte und fragte sich kurz, ob sie wohl verrückt geworden sei. Nö. Sie fürchtete sich nur nicht mehr. So, und jetzt runter mit dem Groß.

Jonny blickte ihr besorgt entgegen, als sie wieder ins Cockpit gekrochen kam.

"Mi-mi-mir ist nicht k-k-kalt", lächelte sie und wandte sich wieder dem Sturm zu.

Jonny staunte. Zögernd dämmerte ihm zwischen Sturm und Dunkelheit eine neue Erkenntnis, keine sehr ausdrückliche, aber... Verblüfft gönnte er sich einen Augenblick der Besinnung und ein Gefühl plötzlicher Klarheit und Einsicht leuchtete hinter dem Gewirbel des Unwetters auf: Sie hat Angst gehabt, aber auch Mut genug, die Angst herauszufordern, sich ihr zu stellen, um sie zu überwinden. Und mir fehlt dieser Mut.

Kim liebte den Sturm. Bedrohlich, mächtig, gewaltig, einfach groß. So groß, wie nichts, was sie bis dahin erfahren hatte. Und im Augenblick fast so schön, wie das Gefühl, die bedrückende Furcht verloren zu haben. Kim hatte keine Ahnung, wohin sie sich verflüchtigt haben mochte, und stellte sich die Frage auch gar nicht. Aber es interessierte sie plötzlich, wieso eigentlich Jonny sich nie wirklich fürchtete. Oder schien das nur so? Vielleicht spiegelte seine Schweigsamkeit und Brummigkeit einfach die Angst, den Mund aufzumachen, und nur wenn ihn etwas wirklich aufwühlte, überwand er sie, so ähnlich wie sie eben auf dem Vorschiff? Über Schüler-Kleinigkeiten in der großen Pause mag er nicht reden. Eröffnet sich die Frage nach dem Ursprung: Hat er sich nach See zurückgezogen, weil es dort keine Kleinigkeiten gibt und Menschen unwichtig sind? Oder schreckt ihn die Nichtigkeit des Belanglosen, weil er die See so liebt? Vielleicht lohnte es sich, das herauszufinden. Vielleicht gelang es ihr im Laufe der Zeit sogar, ihn für menschliche Kleinigkeiten zu begeistern. Sie beschloß, den Gedanken bei besserem Wetter weiterzuspinnen.

Filibuster lag unter dem winzigen Klüver am Vorstag viel leichter auf dem Ruder. Sie krängte auch nicht mehr so stark, so daß das Wasser nur noch manchmal übers Leeschanzkleid gurgelte. Die Wogen türmten sich jetzt so hoch, wie das kleine Boot lang war. Und doch warf sich Filibuster ihnen unverdrossen entgegen, erklomm ihre mächtigen, nassen Mauern, durchschnitt ihre Kronen und rutschte ihnen den Buckel hinunter. Die Wogen, wenn sie es spürten, beachteten sie nicht.

Von den hohen Wellenkämmen aus sahen sie weit im Süden manchmal die Lichter großer Frachter entlangziehen, wenig berührt von dem schweren Wetter - und wenig tröstlich, denn bis bei denen an Bord im Notfall jemand auf Filibuster aufmerksam wurde... Immerhin konnte Jonny, da die Schiffe im Hauptfahrwasser laufen mußten, aus ihrem Abstand einen weiteren, allerdings mehr als ungenauen Hinweis auf Filibusters Position ableiten.

24.

Schlachtreihen wütender Seetrolle schritten, urtümliche Schlachtrufe brüllend, gleißende Netze aus Gischt schwingend im Eilmarsch in den Kampf, in einen Krieg, den kein Mensch verstand oder je verstehen würde. Solange das kleine Boot, darauf achtete, nicht zwischen ihre Beine zu geraten und unter ihren mächtigen stampfenden Füßen zermalmt zu werden, taten sie ihm nichts. Würdigere Gegner, von denen niemals ein Mensch etwas ahnen würde, warteten auf sie, irgendwo jenseits des unsichtbaren, nachtschwarzen Horizonts. Dorthin wandten sich ihre dräuenden Blicke. Die Bewunderung oder Furcht eines verirrten Nachtfalters auf dem Weg ließ sie nicht einmal den Kopf wenden. Höchstens, daß sie ihn achtlos und ungeduldig aus dem Weg wedelten, ohne Rücksicht darauf, ob sie ihn vielleicht verletzten.

Der Nachtfalter überprüfte eingeschüchtert das empfindliche, verästelte Aderwerk seiner Flügel. Jonny leuchtete mit der Taschenlampe das Rigg ab, suchte nach eventuellen Schäden oder Schwachstellen. Viel sah er nicht vom armselig erhellten schwarzen Filigran vor nicht ganz so schwarzem Hintergrund. Sein Blick glitt am Luvbackstag nach unten. Und dort: "Verdammt!"

"Was?" schrie Kim.

"Verdammt!!" brüllte Jonny zurück und deutete auf die Backstagstalje, einen halben Meter von ihm entfernt. Der obere Block war unter dem enormen Druck auf den Mast rund um die Rolle gesprungen, ein breiter Riß klaffte in seiner Schale; eigentlich ein Wunder, daß er überhaupt noch hielt, daß das ganze Backstag noch nicht weggeflogen war. Und mit ihm der Mast. Das Backstag mußte schleunigst entlastet werden, und dazu mußte Jonny wenden. Eine andere Möglichkeit sah er nicht. Wenden, bei diesem Wetter!

Er bezweifelte, so ein Manöver unter diesen Bedingungen bewerkstelligen zu können, was sich in einem Gefühl der Übelkeit direkt auf seinen Magen niederschlug, aber er zwang sich zur Konzentration.

Zwanzig nach elf. Der Wind blies jetzt fast aus Nord, und Jonny steuerte Nordwest. Voraus mußte ungefähr Great Yarmouth liegen, sofern es in dieser Nacht irgendwo ein Voraus gab. Wendete er jetzt, liefen sie Nordost, und da der Wind noch weiter drehen würde, bald genau Ostkurs, geradewegs wieder dahin, von wo sie geflohen waren. Jonny schauderte und wußte selbst nicht, ob vor Kälte, vor der Aussicht, sinnlos im Kreis herumzufahren, oder bei der Vorstellung, den ganzen, weiten Weg zurück nach Den Helder segeln zu müssen, und damit die langen Meilen bis hierher umsonst erkämpft zu haben. Doch was half‘s?

"Wir müssen wenden", schrie er Kim zu. Sie nickte bloß, denn sie zog gerade ähnlich trübe Schlüsse. Der Sturm hatte sie geschlagen, besiegt und zwang sie zum Rückzug. Nach Den Helder womöglich, das sie doch niemals wiederzusehen gehofft hatte. Sie konnten nicht, sie durften nicht nach Den Helder zurück. Was dort verloren ging, ging für immer verloren. Niedergeschlagen verkeilte sie sich zwischen den Duchten und machte sich bereit, die Klüverschot loszuwerfen.

Jonny und Filibuster waren gemeinsam noch nie bei sechs Meter hohen Wellen auf See gewesen, geschweige denn, daß sie durch solchen Seegang gewendet hätten. Mangels Erfahrung legte Jonny sich also einen Plan zurecht, von dem ihm nur sein gesunder Menschenverstand sagte, er könne vielleicht gelingen: Da Jonny auf jedem Wellenkamm fast in den Wind drehte, um senkrecht durch die Welle zu schneiden, mußte es möglich sein, diese Drehbewegung weiter durch- und zu ende zu führen, und auf dem andern Bug zu liegen, bis der nächste Brecher angerollt kam. Am schwierigsten dabei würde sein, während des Manövers, wenn gleichzeitig das Segel im Wind killte, noch ausreichend Schwung gesammelt zu haben, um heil durch den folgenden Wellenkamm zu brechen. Gelang das nicht, würde Filibuster vor der Welle querschlagen, zurückgeworfen und von ihr begraben werden wie ein stürzender Surfer vor Miami Beach (was Jan jetzt wohl machte? - was fiel ihm nur ein, ausgerechnet jetzt an Jan zu denken, zum Teufel?). Dann war es aus.

Jonny packte die Pinne, so fest es ihm seine steifen Finger erlaubten, und starrte grimmig geradeaus. Diese Welle? Nein, zu hoch und brach schon. Er nahm sie in der bewährten Weise. Aber die nächste eignete sich, hübsches Ding. Jetzt - : "Rhe!!"

Wie ein abstürzendes Flugzeug zur Erde, schoß das Boot ins Wellental. Der Klüver feuerte Gewehrsalven, Filibuster legte sich durch den plötzlichen Schwerpunktwechsel weit nach Steuerbord, die ehemalige Luvseite, ihr Heck brach halb aus, sie taumelte die Welle hinunter, steckte die Nase tief weg...

Ein mächtiger Schwall Wasser schwappte von Steuerbord ins Cockpit, irgendwo vorn krachte etwas alarmierend, dann donnerte wahrscheinlich das gleiche Etwas besorgniserregend dröhnend gegen die Bordwand. Kim holte wie besessen die Klüverschot durch und dachte an nichts anderes. Jonny spähte durch das Dunkel wild nach der nächsten Welle aus, um Filibuster heil hinüber und wieder auf Kurs zu bringen, auch wenn irgend etwas am Vorschiff überhaupt nicht in Ordnung zu sein schien und ihn unbedingt daran hindern wollte. -

Kim und Jonny rappelten sich hoch. Einen Moment lang fragten sie sich, ob die Welt womöglich Kopf stand, aber nein, nur spiegelverkehrt, und die Kompaßnadel pendelte um Nordost. Alles wie geplant verlaufen. Nur da vorne schlug noch immer etwas gegen die Bordwand, als wollte es hinein...

"Ich muß nachsehen", schrie Jonny. Er mußte selbst feststellen, was dort los war und mochte auch Kim nicht noch einmal aufs Vorschiff schicken. Also stellte er sich - beinahe achselzuckend - darauf ein, sie nun doch ans Ruder zulassen.

Er zog sie zur Pinne und zeigte ihr, wie sie steuern mußte. "Siehst du wie ich die Wellen anlaufe?" schrie er. "Schräg hoch, quer durch und schräg wieder runter. Vorsicht, irgendwas wirkt da vorn wie ein Treibanker."

Ihr nasses Gesicht nickte in der Dunkelheit. Er spürte es mehr, als daß er es sah. Sie zitterte wie er vor Kälte, aber sie preßte, entschlossen ihre Aufgabe zu meistern, die Lippen zusammen.

Jonny beobachtete sie eine Weile, obwohl er jedesmal zusammenzuckte, wenn von vorn durch das Geheul des Sturms wieder dieses unheimliche Gerumpel herüber dröhnte. Kim schien durchaus in der Lage, das Boot ein paar Minuten lang allein zu regieren.

Jonny hievte sich aus dem Cockpit und schob sich auf den Knien nach vorn. Nasse, kalte Massen klatschten ihm um die Beine. Am Vorschiff stimmte wirklich etwas absolut nicht. Der Bug sah fremd und nackt aus. Eine halbe Sekunde verweigerte Jonnys Gehirn das Denken. Irgend etwas Wichtiges fehlte dort, doch im ersten Moment kam er nicht darauf, was. Dann verstand er: Der Klüverbaum war verschwunden, direkt am Vorsteven einfach weg gebrochen. Filibusters Bug mußte nach der Wende so heftig eingesetzt sein, daß das Wasserstag aus der Verankerung gerissen worden war, der Klüverbaum zur Wasserlinie hin durch nichts mehr gehalten wurde und dem Anprall der Wassermassen von unten nachgegeben hatte. Nein, ein durchgebolzter Beschlag riß nicht so leicht aus der Verankerung, eher noch war das Wasserstag selbst oder das Auge am Beschlag gebrochen. Jedenfalls baumelte der Klüverbaum jetzt am Klüverstag in Lee im Wasser und stieß im Takt der Seen immer wieder heftig gegen die Bordwand.

Jonny konnte nur hoffen, daß es noch kein Leck geschlagen hatte. Unter Deck und sicher gehen durfte er jetzt nicht. Vielmehr mußte er die schlagende Spiere bergen und irgendwie fest laschen, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichtete.

Das Klüverstag hatte sich an einem der Püttings verhakt, er konnte es bequem erreichen. Er ließ sich auf den Bauch nieder, verschränkte die Beine um Mast und Want und beugte sich über die Seite. Filibuster setzte ein und tauchte Jonnys ganzen Oberkörper unter. Die vorbei rauschende See zerrte an ihm, versuchte saugend, ihn mit sich in ihre nasse Gruft zu reißen, Salzwasser drang ihm in die Lungen; Jonny röchelte verzweifelt nach Luft.

Doch bedauernd mußte die Welle weiterziehen und gab Jonny widerstrebend frei.

Verdammt, dieses Holz mußte doch zu packen sein! Er zog das Klüverstag Hand über Hand zu sich heran. Bei dieser Fahrt wirkte der Klüverbaum daran nicht nur wie ein Treibanker sondern war auch so schwer einzuholen. Jonnys unterkühlte Muskeln knirschten, das Stag schnitt in die aufgedunsene Haut seiner Hand, doch die Seen wuschen sein Blut sofort weg. Plötzlich steckte ein Holzsplitter in seiner Handfläche: nach - ja wie lange? zwei Stunden?, wahrscheinlich nur Minuten unsagbarer Mühe - bekam er das abgebrochene Ende des Klüverbaums endlich zu fassen und bugsierte das widerspenstige Stück Holz neben sich an Deck. Von seinem außenbords hängenden Körper funktionierte nur noch sein Kopf richtig, alles andere schien totes Gewicht zu sein, das auch geborgen werden mußte. Irgendwie zwang er sich zu der unmenschlichen Anstrengung, obwohl einfach loszulassen doch soviel leichter gewesen wäre. Auf dem Kajütdach blieb er ein paar Sekunden keuchend liegen, den Klüverbaum wie einen niedergeworfenen Gegner unter sich. Wie hatte Kim das gestern, nein, vorhin nur geschafft, den Klüver umzusetzen?

An der Nagelbank zwischen den Wanten angebändselt hingen immer ein paar Zeisinge in Bereitschaft. Mit blutigen Fingern zurrte er das besiegte Rundholz am Handlauf fest und kroch erschöpft in die verhältnismäßige Geborgenheit des Cockpits zurück. Kim rückte zur Seite, und Jonnys Unterbewußtsein übernahm automatisch Filibusters Ruder.

Wie lange wachten sie jetzt schon? Keiner von ihnen hätte so eine Frage noch beantworten können. Wie spät mochte es sein? Das herauszufinden, hätte einen Blick auf die Uhr erfordert - überflüssige Kräftevergeudung, solange sie nicht Kurs ändern mußten. Wohin war der Rausch des Sturms verflogen, wo die Furcht vor ihm geblieben? Rausch und Furcht - Gefühle verlangten Kraft, und alles, was ihnen davon noch blieb, verwendeten sie lieber auf die Konzentration auf die Kompaßnadel und auf die Anstrengung, sich unter allen Umständen wachzuhalten.

Kim wußte, daß sie wahrscheinlich höllisch fror, doch sie spürte ihre Glieder kaum noch. Manchmal bewegten sie sich wie Teile, die zu einem fremden Körper gehörten. Noch nie in ihrem Leben war sie so müde gewesen, aber wenn Jonny sich senkrecht hielt, durfte auch sie nicht einschlafen. Es konnte ihm kaum besser gehen als ihr, deshalb fühlte sie sich genauso verantwortlich, Filibuster heil durch den Sturm zu bringen. Außerdem hielt es die Augen offen, wenn man Kompaß, Seegang und Windrichtung ständig miteinander verglich.

So nahmen sie wohl wahr, daß der Sturm gegen zwei Uhr morgens ganz auf Nordost drehte, auch, daß sie deswegen Ostsüdost steuerten, auch, daß er nach wenig mehr als einer Stunde wieder rückzudrehen begann, nicht aber, daß er dabei auch merklich abflaute. Seine Hauptstoßkraft verpuffte, ihm ging tatsächlich die Puste aus, und Filibuster schwamm noch! Das erste, woran sie die Veränderung bemerkten, war, daß Filibuster nicht mehr ganz so unermüdlich die Wogen hinauf stürmte, oben nicht mehr mit ganz so großer Wucht getroffen wurde. Weil diese Kraftlosigkeit aber so schön mit ihrer eigenen einher ging, drang die Ursache nicht sofort in ihre benommenen, ausgesaugten Köpfe.

"He", sagte Kim auf einmal. Und da Jonny nicht reagierte: "Da!" Ihr Arm hob sich träge und deutete Steuerbord voraus.

Jonny drehte den Kopf. Vom nächsten Wellenkamm aus sah er, was sie meinte. Der Horizont begann sich im ersten Licht abzuzeichnen: es wurde hell.

Wie Kinder, die sich verlaufen haben und nach einer Ewigkeit ihren besorgten Vater wiederfinden, begrüßten sie den Tag. Stumm im plötzlichen Gefühl der Rettung.

Natürlich würde es noch eine Weile dauern, bis auch der Seegang abnahm. Was machte das - sie konnten endlich wieder etwas erkennen! Wenn es auch nur düstere, graue Wellen waren, so spendeten die doch viel süßeren Trost, als die finster vorbeirasenden Geister, deren Gegenwart sie in Dunkelheit und Regen mehr ahnten als sahen. Noch schüchtern, aber schon verlockend prickelnd rannen die ersten Tropfen neuen Lebens durch ihre Adern.

Es regnete ja auch nicht mehr.

Jonny öffnete den Mund, um sich zu äußern, brachte aber nur ein salziges Krächzen über die Lippen. Er räusperte sich und schmeckte bitteres Seewasser auf der Zunge. "Kaffee", stieß er heiser hervor. Es war, als müsse er das Sprechen erst wieder lernen. Doch richtig, irgendwo in der Backskiste mußte ja noch eine vergessene volle Thermoskanne mit vielleicht noch warmem Kaffee liegen. Kim fand sie, und das schwarze Gebräu weckte weitere lahmgelegte Lebensgeister aus ihrer Betäubung. Auch ein paar übriggebliebene Brote fischte Kim unter der Ducht hervor. Halb aufgeweicht zwar und nach Nordsee schmeckend, trotzdem war es ein herrliches Gefühl, lebenspendene Nährstoffe im Magen zu spüren.

Ja, sie waren müde, sehr müde. Aber sie lebten noch oder wieder. Sie hatten ein enormes Etmal zurückgelegt und würden England erreichen, heute noch. Darüber bedurften sie keiner Verständigung. Die verfluchte Nordsee hatte es nicht geschafft, sie zu schlagen.

Sobald das Tageslicht ausreichte zog Jonny die Karte zu Rate und versuchte, ihren Standort zu koppeln. Das Besteck, das dabei herauskam, blieb zwangsläufig mehr als ungenau.

"Wo stehen wir denn?" wollte Kim wissen.

Jonny knallte den Kaffeebecher auf die Karte, wo er einen bräunlichen Ring hinterließ. "Da: Irgendwo innerhalb dieses Kreises." In jedem Fall immer noch enttäuschend weit von England weg. "Ich werde", fuhr er seufzend fort, "mal versuchen das verdammte Backstag in Ordnung zu bringen. Wenn ich das hinkriege, wenden wir wieder und sehen zu, daß wir einen einigermaßen westlichen Kurs steuern. Nimm’s Ruder, bitte."

Jonny setzte sich nach Lee und schäkelte den beschädigten Block aus. Der untere ließ sich noch verwenden. Aus dem Werkzeugkasten suchte Jonny sich einen passenden, starken Karabinerhaken, schlug ihn am Backstag an und führte die drei Buchten der Talje hindurch. Kritisch betrachtete er sein Werk. Es sah häßlich und provisorisch aus, aber er konnte das Backstag jetzt wieder durchsetzen. "So, jetzt wollen wir mal sehen, ob die nächste Wende besser klappt."

"Wir haben ja keinen Klüverbaum mehr, der verloren gehen könnte", erwiderte Kim in einem Anflug ihres alten Spotts.

Doch tatsächlich manövrierte Jonny diesmal besser durch den Wind, denn der preßte nicht mehr mit der alten Wucht in den winzigen Klüver am Fockstag, und auch die Wellenköpfe brachen nicht mehr so sehr um Filibusters Bordwände.

Jonny wagte sogar, halben Wind zu steuern und Westkurs anzuliegen. Filibuster rollte, reagierte aber bemerkenswert weich, so daß Jonny sich fragte, ob er nicht doch hätte raumschots laufen oder wenigstens beidrehen können.

Voraus lag, wie schon einmal in dieser Nacht, Great Yarmouth. Aller Erfahrung nach mußte der Wind weiter zurückdrehen. Sehr lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie auf ihren alten Südwestkurs gehen durften.

So segelten sie Stunde um Stunde weiter nach Westen und schließlich nach Südwesten, Welle hoch, Welle runter, Welle hoch - wie in einem Paternoster - bis sie an Backbord voraus ein Leuchtfeuer sichteten, das wegen des düsteren Wetters brannte, obwohl es längst Mittag durch war.

Fünf Blitz alle zwanzig Sekunden, das mußte North Foreland sein. Sie standen also zehn Meilen zu weit nördlich. Doch was machten schon zehn Meilen nach dieser Nacht? Was bedeuteten jetzt noch zwei weitere Stunden in klammen Kleidern? Sie hatten England erreicht, in vier Stunden würden sie in Dover einlaufen!

Aus der Themsemündung in See gehende Schiffe blinzelten mit ihren Lichtern vertraulich herüber. Einige hundert Wellenkämme weiter entdeckten sie die Kardinaltonne North East Goodwin. Jonny verschaffte sich per Kreuzpeilung einen genauen Ort. Daraufhin fiel er weiter ab und nahm Kurs auf South Foreland.

Hier, schon dicht unter Land, verlor der Seegang viel von seiner Gewalt. Die Seen streckten sich und liefen nicht mehr so hoch auf.

Obwohl sein ganzer Körper gegen die Anstrengung protestierte, überredete Jonny sich, wieder mehr Segel zu setzen, damit Filibuster ausgewogener auf dem Ruder lag - und, um auf diese Weise schneller in Dover anzukommen. Noch einmal übergab er das Ruder an Kim und setzte das dreifach gereffte Großsegel und die Fock anstelle des Klüvers. Filibuster legte sich mit neuem Mut und neuer Kraft in die Welle und stürmte weiter.

Endlich passierten sie einsam - nur wenige Boote segelten bei solchen Wetter über den Kanal - das Feuerschiff South Goodwin, und gegen halb sechs Uhr nachmittags kamen schließlich - unglaublich - die beiden Feuer auf den Molenköpfen der westlichen Einfahrt nach Dover in Sicht.