Die folgende Leseprobe ist ein Auszug aus meinem Roman "Stillwasser" Alle Rechte daran, wie auch am ganzen Roman liegen bei mir. Ausdruck und Vervielfältigung ist ohne meine ausdrückliche Genehmigung nur für private Zwecke gestattet.

Wenn Ihnen die Probe gefällt, und Sie weiterlesen möchten, nehmen Sie doch einfach Kontakt mit mir auf:

Patrik Grönzin, Ansbacher Straße 27, D-28215 Bremen, JPGroenzin@aol.com

32.

Jonny legte den Zirkel aus der Hand. Noch hundertzwanzig Meilen bis Falmouth. Unruhe suchte ihn heim. Sein Wunsch, nun endlich das zwischenzeitlich lange vergessene Ziel der Reise zu erreichen, drängte die Freude am Reisen mit dem Boot nur um des Reisens willen beiseite. Die Vorstellung, noch eine Nacht in einem weiteren Hafen außer Falmouth zu verbringen, sagte ihm überhaupt nicht mehr zu, obwohl er ursprünglich Torquay und Plymouth nicht hatte auslassen wollen.

Er mußte sich an Ort und Stelle noch zum Rennen anmelden und wußte nicht, wie das ging, oder wie lange vorher er zu diesem Behufe dort sein mußte. Mit Sicherheit würde es voll sein in Falmouth und schwierig, einen Liegeplatz zu bekommen - alles Gründe, frühzeitig anzukommen.

Kim sah ihm über die Schulter. Er teilte ihr das Ergebnis seiner Überlegungen mit: "Wenn wir durchfahren, können wir morgen mittag in Falmouth sein."

Kim stimmte sofort bereitwillig zu, und ihr Einverständnis zu dieser Nachtfahrt war ihm so willkommen, daß er nicht darüber nachdachte, wie es dazu kam.

Spinnennetze hoher, flaumiger Cirruswolken verschleierten den Himmel, und sein Blau strahlte heute nicht so augenversengend. "Wir kriegen demnächst Wind, was denkst du?" fragte Kim.

"Ja, ich glaube auch, spätestens heute abend."

Sie klarten unter Deck auf und lösten die Zeiser von den Segeln. Jonny warf den Motor an. "Kannst unsere Klaue lichten."

Kim begab sich nach vorn und zerrte erfolglos an der Ankerleine. "Ich kriege das Ding nicht aus dem Grund", meldete sie. Jonny versuchte es selbst. Er hievte Filibuster zwar kurzstag, aber der Anker hatte sich fest gebissen und wollte nicht loslassen. "Mistding", kommentierte Jonny seinen Mißerfolg.

"Es ist doch schön zu wissen, daß wir heute Nacht so sicher gelegen haben", spottete Kim. "Was machen wir jetzt?"

"Wir versuchen es mit den acht Pferden am Heck." Jonny gab Gas und dampfte sachte in die Ankerleine ein. Sie kam zitternd steif und wrang sich aus. Der Anker rührte sich nicht.

"Versuch‘s mit etwas mehr Schwung", schlug Kim vor.

"Und dann kommt der Mast von oben, was? Nein, ich gehe nach unten und sehe nach, was da los ist."

Jetzt, da er sich in einer dienstlichen Angelegenheit auszog, machte er sich nicht die geringsten Gedanken darüber, daß seine Badehose irgendwo tief unten in seinem Seesack im Vorschiff verstaut lag. Nackt sprang er ins Wasser und tauchte die zwei Meter hinunter. Die Ursache ihres unplanmäßigen Aufenthalts war nicht schwer festzustellen. Filibusters Draggen hatte sich in einen uralten, halb vergrabenen, verrosteten Stockanker verhakt, und die Ankerleine sich, als Filibuster schwoite, um dessen eine, aus dem Sand ragende Flunke vertörnt. Jonny nahm sich nicht die Zeit, sich darüber zu wundern, wie dieser riesige Stockanker hier wohl hingeraten sein, oder wie lange er hier schon liegen mochte, sondern versuchte hastig und vom alle Bewegungen hemmenden Wasser behindert, die Wuling zu entwirren, während seine Lungen langsam nach Luft zu schreien begannen.

Aber da Filibuster an der Ankerleine zog, gelang es ihm nicht. Prustend tauchte er auf, tankte keuchend Sauerstoff, rief: "Kim, versuch, der Leine lose zu geben, fier‘ sie oder, wenn das nicht reicht, halte sie mit der Maschine lose!" und ruderte mit frischer Lungenfüllung wieder nach unten. Filibusters Schraubenwasser kochte über ihm auf, die Leine erschlaffte. Er warf sie eilig, bevor das Boot wieder hinein driftete, von der Flunke los und wuchtete seinen Anker frei.

"Hoffentlich liegt unserem Auslaufen nun nichts Eisernes mehr im Wege rum, auch kein altes Geschützrohr vielleicht, oder so?" fragte Kim eine Minute später.

Nein, in der Tat segelten sie kurz darauf unter Groß und Fock zwischen den Beißzangenbacken hindurch, setzten draußen Klüver und Toppsegel und nahmen Kurs auf den Leuchtturm von Portland Bill, dessen Spitze sie gestern weit weg schon gesichtet hatten. Heute war dort im Südwesten durch den schwachen Dunst noch nichts zu erkennen.

Hoch am kraftlosen Wind rutschten sie ohne jede Krängung mit weniger als drei Knoten Fahrt durch die träge, ölige Dünung. Manchmal flappten die Segel in einem Flautenloch. Entsprechend lange brauchten sie für die zehn Meilen bis Portland. Jonny hielt respektvoll Abstand, denn jetzt bei halbem Niedrigwasser erzeugten die starken Ebbströme dort gefährliche, schwer berechenbare Strudel. Auch so spürten sie querab vom Leuchtturm, wie Filibuster merklich schneller am Ufer vorbei geschoben wurde.

Portland verlor sich hinter ihnen im Dunst. Auf den nächsten zweiundvierzig Meilen bis Start Point würden sie kein Land mehr sichten, denn sie schnitten jetzt quer über die von den wechselnden Strömungen zwanzig Meilen tief ausgefressene Lyme Bay, und Guernsey irgendwo an Backbord auf der französischen Kanalseite war weit.

Der Westwind schlief für eine Weile ganz ein, doch als Jonny schon überlegte, die Maschine anzuwerfen, kehrte er verstärkt aus Nordwest zurück und kam ihnen so natürlich gerade recht, denn nun konnten sie mit annehmbarer Geschwindigkeit und halbem Wind, ohne zu kreuzen, Westsüdwest anliegen. Kim loggte vier Knoten, und Jonny erwartete noch wesentlich mehr Wind gegen Ende des Tages.

Sie hatten die See ganz für sich allein. Soweit sie sehen konnten, nirgendwo ein Segel oder ein Schiff. Kim betrachtete die Bugwelle und die kleinen Tropfen die von ihr auf- und an Filibusters Planken zersprangen. Ihr Blick schweifte nach achtern vom leichten Gekräusel, das sich deltaförmig von Filibusters Kielwasser entfernte, über die flach rollende Dünung zum Horizont. So viel Wasser. Wie wahrscheinlich war es, daß ein ganz bestimmter Tropfen aus dieser Menge von Filibusters Bug aufgeworfen wurde, an Deck pitschte und ihre Hand benetzte? Vielleicht lohnte es sich doch, Lotto zu spielen.

Einer plötzlichen Idee folgend holte sie sich von unten aus der Navigation Bleistift und Papier und begann zu zeichnen: Die Delphine, Filibuster, wie sie vor dem Anvil Point übers Wasser ritt und Jonny an der Pinne, die Augen in die Ferne gerichtet.

Jonny wurde unruhig unter ihrem künstlerisch forschenden Blick, der zwischen seinem Gesicht und dem Papier hin und her wechselte. "Wieso zeichnest du mich? Muß das sein?"

"Wir haben doch keinen Fotoapparat mit, also zeichne ich. Haben sie früher auch so gemacht."

"Zeig mal her." Jonny begutachtete sein Portrait. Beschweren durfte er sich nicht, sie hatte ihn ganz gut getroffen. "Hmpf."

"Kennst du eigentlich Jan?" fragte er sie nach einer Weile unvermittelt. Kims Hand huschte unbeirrt weiter übers Papier.

"Der, mit dem du sonst segelst? Hast du mich in Lauwersoog schon gefragt. (Richtig, dachte sie, aber keine Antwort bekommen.) Nur vom Sehen. Genauso wenig wie mit dir habe ich vorher mit ihm gesprochen."

"Er müßte jetzt aus Florida zurück sein", überlegte Jonny. "Wird sich schön ärgern, daß er nicht mit dabei ist."

"Ärgerst du dich auch?"

Jonny grinste. "Bis jetzt haben wir uns doch ganz gut vertragen. Nein, ich habe nur gerade nachgedacht, was sie zu Hause jetzt wohl machen. Ich kann es mir kaum vorstellen, es ist so weit weg, so lange her. Trotzdem habe ich kein bißchen Heimweh."

Kim nickte nachdenklich, überlegte, was Lotte gerade tat und mußte lachen. Wahrscheinlich stellte sie wieder irgendwelche Listen von Jungen zusammen. Der Gedanke erschien ihr so kindisch! Schon vor der Klassenfahrt hatte sie ihn lächerlich gefunden, aber einen gewissen Reiz hatte er doch auf sie ausgeübt. Immerhin hatte sie Lotte zugehört. Was für ein Blödsinn!

"Was lachst du", fragte Jonny.

Seltsam, vor ein paar Wochen noch hätte Kim das Geheimnis dieser peinlichen Liste strengstens gehütet und sich selbst, Jonny etwas davon preiszugeben. Jetzt bedeutete ihr die ehemals hochwichtige Angelegenheit nichts mehr als eine hübsche und komische, aber bedeutungslose Geschichte aus früheren Tagen, und sie fand nichts dabei, Jonny davon zu erzählen: "Du warst auch darauf verzeichnet, mit drei Fragezeichen versehen."

Jonny runzelte die Stirn. "Die Fragezeichen wirst du ausradieren können."

"Ich würde sie gar nicht mehr schreiben."

Jonny beichtete nun seinerseits, wie Hugo, während sie an jenem Abend in Lauwersoog gemeinsam Kim beim Tanzen zusahen, ihm gegenüber geäußert hatte, an die, Kim, müsse man irgendwie rankommen. "Ob er damit wohl so etwas gemeint hat, wie mit dir auf einem winzigen Boot nach Falmouth zu segeln?"

Kim lächelte. "Ich habe keine Ahnung. Vermutlich. Jedenfalls eine leere, alberne Formulierung. Feige und verlogen."

Jonny schüttelte den Kopf. "Nicht feige. Ängstlich vielleicht. Und ahnungslos. Auch ahnungslos über seine Ahnungslosigkeit."

Kim versuchte, sich staubige Schulkorridore vorzustellen. Oder Marios Eisdiele. "Wie wird es sein, nach Hause zu kommen?"

Jonny lachte leise. "Auf jeden Fall anders."

"Womöglich laufen wir aneinander vorbei, sagen kurz ‚hallo‘, und das war‘s."

"Nein, bitte nicht."

"Versprochen?"

Jonny versprach es gern. Kim legte den Stift beiseite und sponn weiter: "Sie werden uns ausfragen, alles mögliche denken und doch nichts kapieren."

"Das stört mich nicht. Hat mich noch nie gestört."

Kim glaubte es ihm sogar. Sie hätte Jonny gerne gefragt, ob er wieder mit Jan segeln, und wie das sein würde, aber irgend etwas, vielleicht der kaum merkliche Hauch von Verlegenheit, den sie hinter diesem Gespräch spürte, hielt sie davon ab. Sie sah ihn an. "Wir haben eine lange Reise hinter uns, nicht?"

"Ja", bestätigte Jonny, "und wir haben in kurzer Zeit einiges erlebt."

Sie blickten zum leeren Westhorizont. Hinter ihnen vereinigte sich schäumend Filibusters Kielwasser und verlor sich im Dunst.

Bei Dunkelwerden schoben sich Wolken vor die letzten hochgereckten Lichtarme der versinkenden Sonne. Der Wind frischte auf fünf auf. Jonny barg das Toppsegel und steckte zwei Nachtreffs ins Groß. Voraus flammten unvermittelt zugreifend drei Lichtblitze auf, als wollten sie sagen: "Haben euch geortet", und schossen sich auf einen Zehn-Sekunden-Rhythmus ein. "Start Point", sagte Jonny.

Während sie den traditionellen Ansteuerungspunkt aller Schiffe für Torbay rundeten, studierte Jonny ihn lange im Abendlicht.

Nach einer Stunde lag das Richtfeuer der Einfahrt nach Salcombe querab. "Bist du müde?" fragte er.

Kim schüttelte den Kopf.

"Dann gebe ich dir jetzt den Kurs für die nächsten Stunden und lege mich hin. Wenn irgendwas ist, wenn du müde wirst, besonders wenn es auffrischt, weckst du mich, nicht? Wie gehabt."

"Okee."

Einen Moment später steckte er den Kopf aus dem Niedergang. "Zweihundertfünfundsechszig."

"Is‘ klar. Was ist das für ein starkes Feuer da recht voraus? Zwei Blitz alle zehn Sekunden."

"Das sind die berüchtigten Eddystone Rocks. Kannst sie auch direkt ansteuern, halt dich aber gut frei südlich von ihnen. Ist ein überfüllter Schiffsfriedhof."

Kim blieb allein. Das letzte, was sie für eine Weile von Jonnys Anwesenheit bemerkte, war, daß Filibusters Positionslichter angeschaltet wurden.

An Steuerbord voraus wimmelte es von Lichtern, die die Einfahrt nach Plymouth markierten. Auch vorlicher winkten ein paar Lichtpunkte herüber, die, was Kim nicht genau wußte, zu West Looe und Fowey gehörten. Der Nachtwind spielte mit ihren Haaren und streichelte grob-freundlich ihr Gesicht. Eine unruhige Kabbelsee baute sich auf, und Filibuster stürmte begeistert schnaubend hindurch, als erhöbe sie sich nach langer Schwachwindkrankheit zum ersten Mal von ihrem Lager und spüre, wie ihre Kräfte zurückkehrten. Kim fühlte, wie Filibuster die kühle See genoß, die schmeichelnd ihre Flanken entlang strich. Sie zweifelte nicht mehr, wie das wirkliche Leben aussah. Es spielte um sie herum, es summte in der Melodie des Windes, es sang im Rauschen der Bugwelle, es äußerte sich im Knarren von Filibusters Verbänden, und es zeigte seine Kraft in der Spannung der Leinwand über ihr. Es war anwesend, hautnah. Und es hatte nicht das Geringste mit der zerstörerischen und zerstörten Schein- und Schattenwelt des Nachtlebens in Den Helder oder anderswo zu tun. Sie konnte die Dirks dieser Welt, die sie so erschreckt hatten, nur noch bemitleiden dafür, daß sie sich eine Kulisse aus Plastik und Rauch aufbauen mußten, daß sie nie in den Genuß gekommen waren, die Wahrheit zu spüren, den Frieden der Rückkehr zum Meer, aus dem alles Leben gekommen war. Sie lachte. Die Leute redeten vom ‚Einswerden mit der Natur‘. Sie redeten. Sie benannten und bezeichneten und glaubten, die Wahrheit gefunden zu haben. Dabei verstanden sie nicht, daß die Wahrheit in Wirklichkeit ohne Begriffe auskam, sich zu bezeichnen. Kim fing an zu singen: "A long, long time ago, I can still remember how that music used to make me smile..."

Jonny ließ sich von Filibusters Bewegungen einlullen und schlief ruhig und tief. Er wachte auf, als ein Lichtstrahl durch das kleine Bulleye an Steuerbord fiel und sein Gesicht traf, und weil Filibusters Bewegungen ihn merklich heftiger in der Koje hin und her rollten. Die Uhr über der Navigation zeigte eine Stunde nach Mitternacht. Durch die Windgeräusche hörte er Kim draußen leise singen. Endlich erkannte er das Lied: Es war das Lied dieser Reise. Auf seiner Koje liegend sang er mit, und diesmal traf er die Melodie. "...and I knew if I had my chance, that I could make those people dance..."

Bedächtig zog er sich den Wachgänger über und streckte den Kopf an Deck. Das Licht an Steuerbord war der Eddystone Rocks-Leuchtturm in einer Meile Entfernung.

"Gut geschlafen?" fragte Kim fröhlich. "Gut, daß du aufwachst, ich werde langsam müde. Hat noch weiter aufgefrischt, ich denke, es sind jetzt über sechs und der Seegang zieht langsam nach. Kurs nach wie vor zweihundertfünfundsechszig."

Jonny peilte die Lage und steckte noch ein Reff ein. Gern hätte er Kaffee gehabt, aber Filibuster arbeitete zu stark, um welchen zu kochen. Er holte Karte und Kompaß an Deck, übernahm das Ruder und richtete sich auf die Nacht ein. Kim blieb noch eine Weile bei ihm und zog sich dann zurück.

Der Wind steigerte sich bis auf sieben und die Wellen bauten sich bis drei Meter Höhe auf. Ganz ordentlich, dachte Jonny. Trotzdem kam ihn nicht die geringste Unsicherheit an. Er wußte, wo er war, jetzt auch, wie Filibuster sich bei solchem Wetter verhielt und wie er sie zu führen hatte. Kim ging es wohl ebenso. "Dat mok wi allns."

Oh, ja, auch er spürte, wie Filibuster lebte. Sie hatte noch nie so gelebt, seit er sie führte. Sie war ein Rennpferd in der Startbox, sie schien gar nicht schnell genug rennen zu können, als wüßte sie genau, wohin die Reise ging, als könne sie nicht erwarten, dort anzukommen. Die Bremer Speckflagge an der Saling knallte, der schwarze Wimpel im Topp schlug ausgelassen mit dem Schwanz, tanzte eine wilde Quadrille im Rhythmus des nassen Windes.

Jonny ließ Filibuster die Zügel schießen und gab sich ganz dem Rausch der See hin. Sie segelten durch die Nacht, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie endlos so weiter fliegen können, ein Fliegender Holländer mit einem kleinen, schwarzen Wimpel im Topp auf Westkurs. Achtlos ließen sie das Kielwasser hinter sich zurück, den Blick nach vorn, in die Unendlichkeit gerichtet. Es gab kein Herkommen, es gab kein Ziel. Nur weiter, weiter, weiter. Jonny war seine eigene Galionsfigur, das Schwert in der Hand hoch und vorgestreckt, die Wellen küßten ihm die Füße, er beachtete sie nicht.

Ihm fiel jetzt erst ein, daß Kim ihn nicht wie verlangt geweckt hatte. Er war bereit, ihr zu verzeihen und fragte sich flüchtig, was er ihr wohl nicht verziehen hätte. Lächelnd schüttelte er das Haupt.

Als die Feuer von West Looe und Fowey in einem günstigen Winkel peilten, jonglierte er mit Kompaß, Dreieck, Taschenlampe und Karte und bestimmte seinen Ort. Filibusters Abdrift hatte zugenommen. Er korrigierte den Kurs etwas nach Norden.

Nur noch fünfundzwanzig Meilen bis Falmouth. Von wegen morgen mittag, nein, nachher, schon in fünf Stunden würden sie, die aufgehende Sonne im Rücken, in den River Fal einlaufen. Die Vorstellung erfüllte ihn mit einem Hochgefühl aus Erregung und freudiger Erwartung. Sie hatten es geschafft! Wer dachte da an den Rückweg?

Doch der Ritt über die hohen Wellen zog sich noch lang. Gehässig biß die Nachtluft sein Gesicht mit winzigen Zähnen. Der feuchte Wind rieb seine Wangen wund, machte seine Augen tränen und seine Nase laufen. Zwischendurch marschierte ein Regenschauer durch, gerade lange genug, um ihn bis auf die Haut zu durchnässen. Verbissen kämpfte er gegen Kälte und Müdigkeit. Fünf Uhr. Eigentlich mußte doch... Er wandte sich um. Tatsächlich: im Osten dämmerte es. Das baute ihn wieder auf.

Schließlich kam voraus wieder ein Feuer in Sicht. Obwohl er eigentlich schon nach dem ersten Mal nicht mehr zweifelte, sah Jonny dreimal hin, um ganz sicher zu gehen. Er konnte es kaum fassen: Die Kennung von St. Anthonys Head. Falmouth.

Fahl und übernächtigt richtete sich der Tag in seinem Bett auf und bereitete sich ächzend aufs Aufstehen vor. Jonny weckte Kim, damit sie an Filibusters triumphalem Landfall teilhaben konnte.

Dort auf der Huk etwas an Backbord voraus, mit dem großen Union Jack über dem Turm, das mußte Pendennis Castle sein. Und dort, genau hinter dem Leuchtturm, das war St. Mawes. Hinter Pendennis Castle ragten die Kräne der Falmouth Docks über die Felsen.

Jonnys fuhr mit ausgestrecktem Arm in weit ausholenden Bewegungen über das Panorama und erklärte Kim strahlend, was sie sah, ohne daß er dazu Karte oder Handbuch zu Rate ziehen mußte. Wie oft hatte er auf Abbildungen studiert, was jetzt zum Anfassen - tatsächlich, wirklich und echt - vor seinen Augen lag? Müdigkeit und Kälte spürte er nicht mehr.

Beim Anblick der Hunderte von Ankerliegern im Sund, die sich hinter dem Pendennis Castle hervor ins Bild schoben, beschlich ihn allerdings ein mulmiges Gefühl und dämpfte seine Hochstimmung etwas. Seine Vorahnungen hatten ihn nicht getrogen - Falmouth war voll.

Trotzdem steuerte er selbstbewußt um Pendennis Castle und die Docks herum die Besuchermarina an. Erst kurz davor drehte er in den Wind, und Kim nahm die Segel weg. Jonny warf den Motor an und kurvte eine Weile ziellos durch den überfüllten Hafen, bis ein mitleidiger Jachteigner mit bloßem Oberkörper und einem Handtuch um den Hals - denn er war früh aufgestanden, um zu duschen - sie längsseits winkte.

Der Mann war Ire, grinste freundlich und nahm ihre Leinen über. Als sein Blick auf die deutsche Flagge am Heck fiel, machte er große Augen. "Have you really come all the way from Germany?"

Jonny bestätigte das. Sie wollten ja am Rennen teilnehmen. Das müsse gefeiert werden, behauptete der freundliche Ire und lud sie für neun Uhr zum Sektfrühstück auf sein Boot ein.

 

 

33.

Kim und Jonny hatten zwar beide nicht allzu viel Schlaf bekommen, aber noch hielt ihre Hochstimmung über die Ankunft in Falmouth vor und half ihnen, ihre Müdigkeit zu verdrängen. Sie fanden durchaus, daß ein Sektfrühstück den Umständen angemessen sei, und zu diesem ein sauberes Landgangspäckchen.

Punkt neun Uhr stiegen sie ins Cockpit der wunderschönen, klassischen 10er-R-Jacht Nellie über, wo sie ihr Gastgeber, offensichtlich angetan von Kims inzwischen frisch geduschtem Anblick, äußerst galant willkommen und am weiß gedeckten Frühstückstisch Platz nehmen hieß.

Kim staunte, daß so unverschämt typische Iren tatsächlich auch im wirklichen Leben herumliefen: Ihr Gastgeber war untersetzt gebaut, rothaarig, erfreute sich Tausender über das ganze Gesicht gestreuter Sommersprossen und hieß auch noch Patrick O´Leary, für seine Freunde und alle Engländer Paddy.

Natürlich reihte er auch Jonny und Kim sofort unter seine Freunde ein und forderte sie auf, ihm genauestens über den Törn nach Falmouth Bericht zu erstatten. Jonny blieb wortkarg und nüchtern, denn ihn plagte leichte Nervosität. Er hätte sich lieber nach organisatorischen Fragen bezüglich des Rennens erkundigt,

Kim aber erzählte, ermuntert durch Paddys aufmerksames Lächeln und zuvorkommend deutliches Englisch, bereitwilligst, was ebenfalls nicht gerade dazu beitrug, Jonny aus seiner einsilbigen Zurückhaltung zu locken.

"Nicht, Jonny, die Sturmnacht im Kanal hätte uns fast erledigt?"

"War ziemlich rauh", gab Jonny brummend zu, "aber nun weiß ich, wie man damit umzugehen hat."

"Ja", lachte Paddy, "jeder lernt in einer solchen Situation sehr schnell. Aber warum? Warum habt ihr das alles auf euch genommen, nur um hier am Rennen teilzunehmen?"

"Das kommt von Jonnys Großvater", erläuterte ihm Kim, "aber das muß er schon selbst erklären."

Jonny sah sich genötigt, den Mund aufzumachen. Doch als er merkte, daß sowohl Paddy als auch Kim, die die Geschichte ja längst kannte, seinen Ausführungen interessiert folgten, lenkte ihn das vorübergehend sogar von seiner Unruhe ab. "Ich bin ein bißchen verrückt", entschuldigte er sich am Ende lachend, "aber ich kann nichts dafür. Ich habe mir nun einmal die Idee in den Kopf gesetzt, ein Rennen zu vollenden, das mein Großvater vor vier Jahren begonnen hat."

Paddy schüttelte den Kopf. "Alle Segler sind ein bißchen verrückt, aber das macht gar nichts."

Jonny nutzte die Gelegenheit, ihm einige der unter seinen Nägeln brennenden Fragen zu stellen. Wo man sich anmelden müsse, welche Klassen segelten, wo die Wendemarken lägen, wann es los ginge?

Paddy verzog sein sommersprossiges Gesicht zu einer komischen Grimasse der Bedenklichkeit. "Ich selbst habe mich schon vor sechs Wochen angemeldet und segle in der Klasse J für Gaffelsegler über vierzig Fuß. Ich weiß nicht - die meisten Boote kommen zwar erst morgen mit dem Feeder Race von Fowey, - aber angemeldet sind sie alle schon und die Listen gedruckt. Wenn, dann müßt ihr zum Greenbank Hotel gehen, eine halbe Stunde zu Fuß von hier, hinter dem Royal Cornish Yacht Club."

Jonny, den diese Auskunft keineswegs beruhigte, drängte daraufhin zum sofortigen Aufbruch in die Stadt. Paddy beschrieb ihnen den Weg und versprach, ihnen den Liegeplatz an seiner Seite freizuhalten.

Jonny gönnte den festlich geschmückten Gebäuden der lebhaften kleinen Stadt kaum einen finsteren Blick. Dafür sah sich Kim um so neugieriger um. An den Häusern und über den Straßen wehten Flaggen und Banner aus, in allen Schaufenstern gab es Becher, Handtücher und T-Shirts mit "Falmouth Classics"- Aufdruck zu kaufen, und über die Plätze wimmelten Ameisenvölker von Touristen. Man erkannte sie daran, daß sie sich "seemännischer" kleideten als jeder Segler und Käppis trugen, auf denen, in goldenen Buchstaben schwungvoll hingeworfen, "Captain" zu lesen stand.

In der Arwenack Street beauftragte Jonny Kim damit, rote Farbe zu besorgen, die Anmeldung könne er auch Allein erledigen. Wozu er rote Farbe brauchte, erwähnte er nicht, auch nicht, daß er Kim in seiner Nervosität bei der Anmeldung nicht dabei haben wollte. Kim zuckte die Schultern, und sie trennten sich.

Jonny fand den Royal Cornish Yacht Club ohne Schwierigkeiten, er brauchte nur geradeaus weiter und unter einem Torbogen durchzugehen. Ein großes, blank geputztes Messingschild verkündete die Residenz des Clubs. Direkt dahinter führte ein kurzes Stück Weg zum Greenbank Hotel am Wasser hinunter. Jonny zögerte am Tor unentschlossen, marschierte dann aber energisch die Rampe abwärts. Nirgendwo zeigte sich ein Mensch, geschweige denn einer, der hilfsbereit ausgesehen hätte. Das Erdgeschoß des Hotels schien einen ganz normalen Pub zu beherbergen. An der Tür hing ein Plakat mit der Liste der am Rennen teilnehmenden Boote aus. Paddy hatte recht gehabt. Und Filibuster stand nicht darauf.

Jonny drückte verzagt auf die Klinke und trat ein. In einer Ecke saßen ein paar Herren beim Bridge. Ein breitschultriger Mann, mit einem an eine Rosine erinnernden aber nicht unfreundlichen Gesicht blickte ihm von der Theke gleichgültig entgegen und fragte ihn nach ein paar Sekunden, während derer Jonny verlegen schweigend in der Tür stand, leicht spöttisch nach seinem Begehr.

Jonny nannte es ihm.

"Da bist du ein bißchen spät dran, Junge", beschied ihm der Mann bedauernd, "Anmeldeschluß war vor zehn Tagen. Du hättest doch bloß anrufen müssen."

Alles umsonst. Jonny hatte es geahnt. Vielleicht nicht die ganze, aber doch ein beträchtlicher Teil der Welt brach über ihm zusammen. Aber das konnte doch, das durfte einfach nicht sein! "Wir haben extra deswegen die weite Reise gemacht", bat er erschüttert und hilflos. "Gibt es nichts, was man tun könnte? Vielleicht kann man uns nachträglich drauf setzen oder als Außenseiter?"

"Ich wüßte nicht. Du hast doch gesehen, die Listen sind gedruckt, die Klassen aufgestellt - du kommst zu spät." Der Mann zuckte entschuldigend die Achseln und wandte sich, andeutend, daß die Angelegenheit für ihn abgeschlossen sei, jemandem hinter der Küchentür zu.

Jonny ging still hinaus und blieb vor der Tür stehen. Der immer noch kräftige Wind strich ihm durchs Gesicht, und die plötzlich hervortretende Sonne beleuchtete seinen Scheitel. Ein paar herrliche Gaffelkutter kreuzten über den glitzernden Sund, bunte Flaggen knallten fröhlich in den Toppen der Working Boats. Was bedeutete ihm das alles noch? Er durfte am Rennen nicht teilnehmen, nachdem er so einen langen Weg hierher gekommen war, und mußte sich selbst und seiner Unfähigkeit die Schuld daran geben. Langsam wanderte er zum Kopf eines der Anleger hinaus, setzte sich und lieferte sich ganz seiner dumpfen Wut gegen sich selbst aus.

So fand ihn Kim. Sie fragte nicht erst unnötig nach dem Offensichtlichen, sondern stellte den Topf mit der roten Farbe hin und ließ sich neben Jonny nieder. Nach einer Weile erkundigte sie sich ruhig: "Woran liegt‘s?"

"Wir sind zu spät. Hätten uns schon vor zehn Tagen anmelden müssen." knurrte Jonny.

"Und da kann man nichts dran drehen?"

Er schüttelte den Kopf.

"Das glaube ich nicht so einfach", behauptete Kim, stand auf, ging zum Greenbank Hotel zurück und betrat ihrerseits den Pub. Sie traf ebenfalls auf den Mann mit dem Rosinengesicht und erhielt die gleiche entmutigende Auskunft. Aber so leicht wie Jonny ließ sie sich nicht abwimmeln.

"Wer ist für die Organisation der Regatta verantwortlich?" forderte sie zu wissen.

"Dein Freund war eben auch schon hier, nicht? Das ist Sir Cecil Hammond. Wieso?"

"Ich möchte ihn sprechen. Bitte sagen Sie mir, wo ich ihn finden kann", verlangte Kim.

"Ich glaube kaum, daß er sich deinetwegen stören läßt", erwiderte der Mann, beging aber den Fehler, einen kaum merklichen, unsicheren Seitenblick zu dem Tisch in der Ecke zu werfen, an dem die vier älteren Herren saßen und Bridge spielten.

"Ist es einer von denen?" fragte Kim sofort und marschierte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die vier los.

"He, warte", rief Rosinengesicht halb grinsend hinter ihr her. "Wenn du so hartnäckig bist, melde ich dich lieber an."

Er bemühte sich hinter seiner Theke hervor und sprach einen Herren mit Glatze und roter Nase flüsternd an, wobei er mehrfach in Kims Richtung nickte.

Sir Cecil Hammond stemmte sich von seinen Karten hoch und schritt ihr höflich lächelnd entgegen. "Nun was kann ich für dich tun?"

Kim überwand ihren Respekt vor seinem Adelstitel und brachte ihr Anliegen noch einmal vor. "Wir sind ganz von Bremerhaven in Deutschland nur für das Rennen gekommen", fügte sie hinzu. "Wir haben drei Wochen schlechtes Wetter hinter uns. Möchten Sie wirklich, daß das umsonst gewesen sein soll?"

Sir Cecil bat sie in den Kreis der anderen Bridgespieler an seinen Tisch. Also teilte sie denen ebenfalls den Grund ihres Kommens mit. Die Augen der würdigen Herren ruhten wohlwollend auf ihr. Da verschwieg sie auch die Geschichte von Jonnys Großvater nicht.

Sir Cecils Augen verengten sich zu Schlitzen, was seine Nase noch größer und röter erscheinen ließ. "Just a moment. Wie hieß dieser Großvater?"

Das wußte Kim nicht. Aber das Boot hieße Filibuster.

"Blimey!" Sir Cecil lachte dröhnend auf. "Dann muß dein Freund der Enkel von dem alten Johnny Henderson sein, der vor vier Jahren beim Rennen ums Leben kam. Wir waren zusammen in Deutschland stationiert. Er war außer mir der einzige Mann aus Cornwall an Bord der alten ‘Weasel´ - alter W-Klasse-Zerstörer."

Sehr schnell, daß Kim nur die Hälfte verstand, rief er seinen weißhaarigen Bridgepartnern die Geschichte ins Gedächtnis zurück, an die sie sich nach einiger Hilfestellung dann wieder gut erinnern konnten. "Mit ihm habe ich damals noch so manche schöne Flasche aus Frankreich herüber gebracht und bin schließlich dafür geadelt worden!" Die Herren lachten begeistert.

"Und sein Enkel will das begonnene Rennen nun für ihn zu ende segeln", fügte Kim noch hinzu.

"Well, Gentlemen", meinte Sir Cecil, "diesem ehrenwerten Vorsatz sollten wir uns doch nicht in den Weg stellen, nicht wahr?" Und rief an das Rosinengesicht gewandt: "Keith, bring mir so ein Anmeldeformular und schreib‘ die Filibuster noch unten auf die Liste. Die Daten findest du in den Unterlagen von vor vier Jahren!"

Fünf Minuten später schob er Kim den ausgefüllten Bogen und die Falmouth Classics Flagge über den Tisch, die nur Boote führen durften, die am Rennen teilnahmen. "Kostet leider fünfzehn Pfund." Er lachte abwehrend, als Kim ihm um den Hals fallen wollte. Sie überprüfte den Inhalt ihres Geldbeutels. Es reichte gerade noch, die Gebühren zu zahlen.

Kurz darauf war sie wieder bei Jonny und drückte ihm, ihren Triumph mühsam unterdrückend, wortlos Zettel und Flagge in die Hand. Jonny starrte darauf, dann zu Kim hoch, dann wieder auf die Flagge und die Anmeldebestätigung, als hätte sich die Krone der Königin von England plötzlich vor seinen Augen materialisiert.

Endlich schaltete er und hätte Kim beinahe geküßt, aber aus verschiedenen Gründen tat er es nicht. Erstens traute er sich plötzlich doch nicht mehr. Zweitens merkte Kim, was ihn bewegte, doch Dankbarkeit wollte sie nicht, weswegen sie sich ein bißchen zurückzog. Das merkte drittens wiederum Jonny und traute sich daraufhin noch weniger.

"Du schuldest mir fünfzehn Pfund", sagte Kim nur.

Trotzdem war die Welt wieder schön. Die Sonne tauchte sie in einen sauberen, goldenen Glanz, als sei sie mit Klarlack überzogen. Über den Booten wehten die Flaggen des Falmouth Classics, und bald würde auch unter Filibusters Saling eine wehen.

Mit frischem Mut machte Jonny sich daran, seine Pläne für den heutigen Tag auszuführen. Als erstes kaufte er mit Kim beim Jachtausrüster eine Cornische Gastflagge - schwarz mit weißem Kreuz. Ursprünglich hatte Jonny sie über der Britischen anschlagen wollen, da sie diese in der Größe aber ohnehin überbot, heißte er sie doch darunter, um die Engländer nicht zu beleidigen. Auf der anderen Seite setzte er über dem Vereinsstander die Falmouth Classics Flagge. Dazu die große Bremer Flagge an der Gaffel, der Filibusterwimpel im Topp und die kleine Europaflagge mit schwarzrotgoldener Gösch am Heck - Jonny betrachtete stolz sein schmuckes Boot. Kim stand daneben und lächelte. Die bunten Fetzen wehten unternehmungslustig knallend in der frischen Brise.

Doch Jonny nagte an seiner Unterlippe und war noch immer nicht recht zufrieden. Salzränder überzogen Filibusters Flanken, und an Deck reckten sich sogar ein paar kleine Salzbuckel. Die Segelpersennings sahen spakfleckig und die Messingbeschläge stumpf und grün aus. Unter anderen Umständen hätte Jonny mit Stolz auf sein abgewettertes Boot geblickt, aber hier zwischen all den blitzblanken Yachten? Er füllte eine Pütz mit Süßwasser vom Hahn am Steg und begann zu schrubben. Kim deckte ihn mit lästerlichen Bemerkungen ein, fand hier noch einen winzigen Fleck, den Jonny übersehen habe, bemerkte, er solle vielleicht erst einmal seine Hose wechseln, damit er das frisch gewischte Deck nicht wieder einsaue, fragte, ob sie von nun an Filzpantoffeln an Bord tragen müsse und bezweifelte ganz allgemein den Gesundheitszustand seines Verstandes. Da Jonny ihre Tiraden aber lächelnd und unbeeindruckt ertrug, kam sie sich am Ende selbst dumm vor, suchte sich Putzmittel und begann an Filibusters Messingglocke herum zu polieren.

Nach zwei Stunden Arbeit konnte Filibuster zwar noch nicht mit ihren glänzenden Kolleginnen mithalten, machte aber schon einen erheblich salonfähigeren Eindruck, eben wie ein Bauer, der sich stadtfein gemacht hat oder auch wie Jonny zu Gast im Royal Yacht Club. Sie ließen es dabei bewenden.

"Und wozu brauchst du nun die rote Farbe?" fragte Kim am Ende.

Jonny wies in die Bucht hinaus, wo ein paar Working Boats unter Vollzeug tief auf dem Ohr liegend einander wilde Jagden lieferten. "Sie tragen ihre Toppsegel alle wie ein Ritter seinen Wappenschild oder ein Doppeldeckerpilot seinen Schal. Ich will eine Speckflagge ins Toppsegel haben."

Das gefiel Kim. Sie half ihm. das Toppsegel an Land zu tragen und auszubreiten. Gemeinsam zeichneten sie unter dem Oberliek eine Doppelreihe Würfel und schräg nach unten laufend parallele Balken an, bewaffneten sich mit Pinseln und malten schöne rote Streifen und Quadrate auf das Segeltuch, ohne die fragenden und zweifelnden Blicke einiger Segler von den anderen Booten zu bemerken, die sie mehr oder weniger unverhohlen streiften.

Die Farbe trocknete schnell unter Wind und Sonne. Während sie warteten, aßen sie verspätet zu Mittag und bemalten anschließend die andere Seite des Segels. Gegen Abend heißten sie es probeweise und fanden beide, daß es ziemlich verrückt, aber sehr gut aussähe.

Nach dem Abendbrot machte sich ihre Müdigkeit deutlich bemerkbar - nachdem er letzte Nacht so sehr zu kurz gekommen war, forderte der Schlaf jetzt seine Rechte ein. Doch sie mochten ihm nicht nachgeben und sich in die Kojen verholen, ohne vorher noch ein bißchen mehr von Falmouth gesehen zu haben. So entledigten sie sich der rotfleckigen Arbeitspäckchen und zogen los.

Der Sund glitzerte wie schwarzes geriffeltes Glas. Die sinkende Sonne warf stellenweise einen Hauch von Gold darauf, der das Gekräusel beruhigte und die Wasseroberfläche ölig wie flüssiges, kühles Metall erscheinen ließ. Im Abendlicht schimmerten Mahagoni, Teak und Eiche der Boote wie Katzenaugen unter ihrem glänzenden Lack. Die sanfte, geschmeidige Farbe von Hanf und die harte, kalte von Messing balancierten das warme Hafenstilleben vollendet aus.

Auf den Piers allerdings brannten die bunten Lichter dutzender Straßencafes, in denen Einheimische, Segler und Touristen saßen, redeten und lachten. Weiter flußaufwärts tönte der kratzige Klang der Fiedeln einer mittelalterlich verkleideten Folkband herüber. Kim und Jonny lauschten, wandten sich dann vom Wasser ab und schlenderten durch Falmouths enge Straßen. Mengen gutgelaunter Leute schoben sich über das Kopfsteinpflaster, nicht achtend einiger weniger Autos, die sich hupend ihren Weg zu bahnen versuchten. An jeder Ecke schien etwas los zu sein, und über Allem wehten die Flaggen des Falmouth Classics. Kim und Jonny sprachen nicht, sondern atmeten nur tief.

Am Ende kamen sie wieder beim Greenbank Hotel an und setzten sich auf den Steg, auf dem sie heute vormittag schon in wesentlich gedrückterer Stimmung gesessen hatten.

"Bist du eigentlich nervös wegen des Rennens?" fragte Kim.

Jonny schüttelte den Kopf. "Nö. jetzt nicht mehr."

"Aber du willst doch gewinnen."

"Natürlich. Ich habe nur keine Ahnung, ob Filibuster gewinnen kann. Egal, welchen Platz wir machen, ich werde hinterher nicht wissen, ob wir hätten besser sein können, oder woran es gelegen hat. Es ist auch nicht so wichtig."

Nein, dachte Kim, es ist wirklich nicht so wichtig. Aber es ist schön, einer Meinung zu sein. Gern hätte sie ihren müden Kopf eine Weile an seine Schulter gelehnt.

Jonny stand auf. "Laß uns zurück an Bord. Ich will in die Koje."

"Was liegt denn morgen an?"

"Abends ist der Empfang für die Teilnehmer. Über Tag möchte ich die Regattastrecke wenigstens einmal absegeln. Wäre trotz allem dumm, während des Rennens Zeit zu verlieren, weil wir erst nach den Wendemarken suchen müssen."

"Wir brauchen doch nur hinter den andern herzufahren."

"Das geht nicht", grinste Jonny. "Wir werden ja vorne liegen."